Leseprobe
Mein Weg in die Freiheit
Prag, Oktober 1989, es ist hundekalt. Ich sitze in der Deutschen
Botschaft im Freien auf einem Doppelstockbett und starre vor mich
hin. Bis hierher habe ich es erst mal geschafft. Ob dieser Schritt
wohl richtig war? Es ging alles so Hals über Kopf. Von heute
auf morgen habe ich mich entschieden.
Eigentlich war es gar nicht meine Entscheidung, sondern die unserer
damaligen Freunde.
Michael ist drüben und du weißt nicht, wie es mit
dir weitergeht. Nutze doch die Chance und hau ab über Prag.
Wir fahren dich mit unserem Trabi vor die Botschaft.
Vielleicht haben sie ja Recht und ich komme auf diese Weise hinüber.
Dann brauche ich nicht mehr das Dach mit meiner Schwiegermutter
zu teilen. Unser Haus ist ja nun bei unseren Freunden in sicheren
und guten Händen und die sich darin befindenden Sachen auch.
Das Risiko, statt im Westen im Osten im Gefängnis zu landen,
musste ich eingehen.
In der letzten Nacht fand ich natürlich keinen Schlaf. Unzählige
Gedanken rasten durch meinen Kopf. Vielleicht haben unsere Freunde
ja wirklich recht und die Grenze wird wieder geschlossen. Dann komme
ich nicht mehr heraus aus diesem Land. Außerdem wollen sie
möglichst schnell in unser Haus ziehen.
Nun sitze ich hier und warte und warte.
Sie kommen alle fort, wird uns gesagt, als wir noch
vor der Botschaft auf Einlass warten, aber es gibt Schwierigkeiten
mit der Organisation des Transports.
Um mich herum sitzen Frauen mit Kindern, Männer werden nicht
mehr in das 2000 Quadratmeter große Botschaftsgelände
hineingelassen. Einige Kleinkinder schreien, die größeren
toben auf den Betten herum. Wer kann, besorgt sich etwas Warmes
zu trinken und zu essen. Ich kann nicht aufstehen, ohne Gefahr zu
laufen, meinen Sitzplatz zu verlieren. Essen und Trinken bedeutet
Toilettengang und das Warten auf Erleichterung dauert zwei Stunden.
Es wird Nacht, die Kälte beißt, das Rote Kreuz verteilt
Decken. Ich habe eine erwischt und wickele mich hinein. Schlafen
im Sitzen kann ich nicht.
Die Zeit scheint stillzustehen. Die Mutti neben mir besorgt heißen
Tee, ich passe inzwischen auf ihr Baby auf. Dafür bringt sie
mir einen Becher mit, den ich genüsslich in mich hineinschlürfe.
Für ein paar Minuten habe ich ein angenehmes Wärmegefühl.
Die Botschaft ist mit DDR-Bürgern überfüllt, etwa
4000 - so sagt man - sind im Botschaftsgelände, 4000 warten
noch davor. Ich kuschele mich in meine Decke.
Und ich warte und warte und warte.
Irgendwann dämmert es dann doch, der Tag bricht an. Durch die
Menschenmassen werden Lebensmittel, Windeln, Toilettenpapier gereicht.
Ich brauche nichts, sitze nur da und beobachte das Treiben.
Es gibt neue Hoffnung, der Transport soll losgehen. Die Spannung
steigt. Doch erst gegen Abend ist es soweit. Ich drängele mich
nach vorn und erreiche einen der bereitstehenden Busse, die uns
zum Bahnhof fahren. Beim Einstieg werden wir gefilmt von
der Stasi, wie ich später aus den Zeitungen erfahre. Viele
Prager winken uns zu. Mit den Fingern zeigen sie das Siegeszeichen,
ein V.
Noch nie bin ich mit dem Bus durch Prag gefahren und jetzt soll
er das Sprungbrett in den Westen sein. Wie seltsam geht es doch
manchmal im Leben zu. Doch bin ich zu müde, um großartig
darüber nachzudenken.
Am Bahnhof angekommen, steige ich in den bereitstehenden Zug und
finde noch einen Platz.
Mich plagen Hunger und Durst. Im Gang steht ein Kasten Cola, ich
bediene mich. Mir gegenüber sitzen zwei sympathische junge
Männer, Balletttänzer. Die zwei Maurer zu meiner Rechten
hatten ihr letztes Geld für eine Wildlederjacke ausgegeben.
Sie sind noch jung und haben nicht viel zu verlieren, ich schon.
Mein Eigentum konnte ich nicht mitnehmen. Materielle Dinge lassen
sich zwar ersetzen, doch sie haben auch ihren Preis, einen sehr
hohen. Wir hatten dafür eine Menge Zeit und Aufwand investiert.
Viele Dinge hatten wir aus Rumänien mitgebracht, alles mühsam
in Koffern nach Hause transportiert. Unsere wertvolle Keramiksammlung
mussten wir leider zurücklassen.
Ein zwanzigjähriges Mädchen trägt am rechten Bein
einen Verband. Sie ist über die grüne Grenze
gekommen und hat sich dabei an einem Zaun verletzt. Kofferradio
und Gepäck musste sie auf einem Feld liegen lassen.
Außer mir haben alle Mitreisenden im Abteil die Grenze illegal
passiert. Alle Züge in Richtung Prag sind von der Stasi durchkämmt
worden, die Passagiere wurden ohne Begründung zurückgeschickt.
Ich konnte in aller Frühe als Fußgänger mit nur
einer Handtasche die Grenze legal überschreiten. Es wäre
zu gefährlich gewesen, irgendetwas mitzunehmen.
Ingrid und Klaus setzten mich vor dem Grenzübergang ab und
sie fuhren als Wandervögel getarnt mit Rucksack, Hut und Wanderstock
im Auto durch die Kontrollen. Später luden sie mich auf der
Straße Richtung Prag wieder ins Auto.
Ein Mann im Waggon verschafft sich Gehör und macht uns Mut:
Bitte mal alle kurz herhören! Ich bin Ihr westdeutscher
Begleiter und möchte Ihnen nur kurz ein paar Worte sagen. Sie
brauchen keine Angst zu haben. Sie sind hier im Zug auf westdeutschem
Gebiet und es passiert Ihnen nichts. Leider müssen wir noch
einmal durch die DDR fahren. Einige Stasi-Leute werden zusteigen
und Ihnen Ihre Ausweise abnehmen. Bitte halten Sie diese bereit.
Dafür erhalten Sie offizielle Ausreisepapiere, die beurkunden,
dass Sie legal ausgereist sind. So ist es zwischen den Regierungen
abgesprochen. Die Leute von der Stasi werden Sie nicht behelligen.
Ich trau dem Frieden nicht, denn ich kenne die Stasi.
Wenn Sie Eigentum haben, zum Beispiel ein Haus, bekommen Sie
keine Ausreise.
Nötigung nennt man das wohl, wenn es nur auf diese Weise möglich
ist, die Freiheit zu erlangen.
Etwa zehn Stasi-Leute in feinen Anzügen steigen in den Zug
und nehmen uns die Ausweise ab. Ausreisepapiere bekommen wir nicht.
Hatte ich es doch geahnt. Ohne Ausweis ist man doch ein Niemand.
Zum Glück habe ich noch meinen Führerschein dabei.
Und dann sehen wir dieses Bollwerk des Friedens
die Grenze in ihrem ganzen Ausmaß, Zäune, Wachtürme,
Hunde, - für Flüchtlinge unpassierbar. Dieser Zug fährt
hindurch.
Alle starren gebannt und betroffen aus dem Fenster; mit seinen Gefühlen
ist jeder allein.
Ich empfinde die Grenze als riesige Gefängnismauer, das letzte
Hindernis auf dem Weg in die Freiheit. Wie sicher waren wir doch
eingesperrt im großen Gefängnis DDR. Wir
Insassen hatten zwar ein wenig Auslauf, doch wir waren gut verwahrt.
Um sieben Uhr früh fährt der Zug in Hof ein. Auf dem
Bahnsteig begrüßen uns winkende Menschen.
Eine Frau ergreift mich am Arm und fragt: Was kann ich für
Sie tun, wie kann ich Ihnen helfen?
Ich bin so erschöpft und glücklich, dass ich nur weinen
kann. Ich bin frei, das gibt es doch gar nicht! Ich bin frei!!!
Tief atme ich die Luft der Freiheit ein.
In der Bahnhofsauskunft bekomme ich kostenlos eine Fahrkarte. Ich
kenne mein Ziel und weiß, dort ist er mein Mann. Drei
Wochen zuvor war er mit unserem Trabi über Ungarn/Österreich
in die Bundesrepublik geflohen. Das war nur möglich, weil er
ein Visum für eine Reise nach Rumänien hatte, wohin er
eigentlich fahren wollte. Ich wollte nicht mit und hatte deshalb
keines beantragt. Schon bald werde ich wieder in seinen Armen liegen.
Noch eine Stunde bis zur Abfahrt meines Zuges. Völlig ausgehungert
verschlinge ich zwei Teller Nudelsuppe und trinke heißen Tee
dazu. Das tut gut und die Zeit vergeht im Nu.
Ich fühle mich unwohl in meiner Haut. Zwei Tage kein Essen,
keinen Schlaf, keine Hygiene. Meine Haare kleben zusammen.
Dann sinke ich in die weichen Polster des Intercity und schaue aus
dem Fenster. Orte und Landschaften fliegen vorbei, so schön,
wie ich noch keine gesehen habe. Alles macht so einen sauberen,
gesunden und gepflegten Eindruck, dass ich mich nicht genug daran
sattsehen kann.
Da gibt es kein Einheitsgrau, keine kaputten Häuser. Diese
Welt hat tausend Farben.
Das also ist das andere Deutschland, erst jetzt kann ich es sehen.
Über vierzig Jahre lang war ich eingesperrt, ich verstehe nicht,
warum. Zwanzig Jahre habe ich ununterbrochen gearbeitet, die letzten
Jahre sogar in drei Schichten, oftmals bis zur totalen Erschöpfung.
Es ging nicht anders. Ich musste mir doch für den Fall des
Falles das Arbeitslosengeld sichern und noch weiterarbeiten für
wertloses Geld.
Von all den Jahren ist mir nur geblieben, was ich am Leibe trage.
Vier Jahre Warten auf die Ausreise Jahre voller Demütigungen.
Doch wir hielten durch, wir hatten ein Ziel. Und dann die niederschmetternde
Nachricht: Ihr Antrag auf Ausreise ist abgelehnt. Uns
blieb nur die Flucht ins Ungewisse und der Preis für die Freiheit
war unser Eigentum. Mit 42 Jahren stehe ich nun vor dem Nichts.
Wie wird die Zukunft aussehen? Werden wir Arbeit bekommen? Solche
und ähnliche Fragen beschäftigen mich.
Nun kann ich auch meine Tränen nicht mehr zurückhalten,
die nervliche Anspannung der letzten Tage und Wochen ist wohl doch
etwas zu groß gewesen. Ich weine und weine und kann nicht
mehr aufhören. Die beiden mitreisenden Frauen fragen mich teilnahmsvoll
nach dem Grund und ich verrate ihnen, woher ich gerade komme. Sie
schenken mir Geld für ein Taxi in meinem Zielort.
Einmal muss ich noch umsteigen. Ich gehe in ein Abteil, in dem
bereits ein junger Mann sitzt. Es ist ein Belgier, er fragt mich,
woher ich komme. Ich sage ihm, dass ich geradewegs aus der Prager
Botschaft komme und etwas übermüdet und angeschlagen sei.
Er kauft sich einen Kaffee und fragt mich, ob ich auch einen trinken
möchte. Dankend nehme ich an und stürze mich gierig darauf.
Als ich ausgetrunken habe, wird er handgreiflich und fasst mich
an die Brust. Schleunigst ergreife ich die Flucht. Selbst ein Kaffee
hat seinen Preis, denke ich, es wäre besser gewesen, ich hätte
mir von dem Taxigeld selbst einen gekauft.
Irgendwann bin ich am Ziel, mein Mann fällt mir an der Wohnungstür
unserer Freunde um den Hals. Er kann mein Auftauchen noch gar nicht
so recht begreifen und hat tausend Fragen. Ich habe erst mal nur
eine: Wo ist hier die Dusche?
Meine abenteuerliche Flucht ist zu Ende, ein neues Leben beginnt.
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