Leseprobe:
Wundersame KInderwelt ( Manfred Piepiorka )
Ausguck
Es war ein Tag wie so viele zuvor und doch wieder nicht. Unser Vater
bemerkte zunächst einmal gar nichts. Erst Hinweise von dir, Sabrina,
und dir, Nathalie, ließen ihn aufmerksam werden. Ich, damals etwa
sieben Jahre alt, fehlte im Dreiergespann.
Deine Äußerung, Nathalie, Tatjana suche sich einen guten Aussichtsplatz,
deutete Papa zunächst einmal als nicht besonders aufregend. Das kam
erst wesentlich später. Er war nur genervt von eurer Nörgelei,
besonders dem Vorwurf: Die darf alles, wir nicht. Das ist so gemein.
Wir sollten Papa oder Mutti rufen.
Eure Stimmen kamen aus dem Bereich des aufsteigenden Grundstücks
hinter dem Haus. Dort gab es Stellen, an denen der Abstand vom Erdboden
bis zur Dachrinne kaum mehr als eineinhalb Meter betrug. Es dauerte nicht
lange, bis unser Vater dort anlangte.
Nur du, Sabrina, und du, Nathalie, standet neben einer kleinen Stehleiter,
die aber gar nicht dahin gehörte. Und ihr gucktet in die Höhe,
als hieltet ihr nach etwas Interessantem Ausschau.
Ein Blick in die gleiche Richtung ließ Papa sicher geradezu
das Blut in den Adern gefrieren. Ganz oben auf dem First, praktisch am
senkrecht aufragenden Giebel, sah er mich.
Ich saß rittlings auf der letzten Firstpfanne. Mit den Hacken meiner
Schuhe klopfte ich an die etwas zurückliegende Giebelwand. Wie zu
einem Musikstücktakt bewegte sich mein Körper rhythmisch hin
und her.
Papa bat, forderte, schimpfte und drohte. Nichts. Im Gegenteil, ich habe
es offenbar genossen, von dort oben auf euch herunterblicken zu können.
Mir war wahrscheinlich auch irgendwie klar, dass er nicht zu mir herauf
konnte. Die alten Dachpfannen hätten ihn tatsächlich ganz bestimmt
nicht getragen.
Es war geradezu zum aus der Haut fahren. Einerseits litt Papa tausend
Ängste, weil mir etwas Schlimmes passieren könnte, andererseits
wuchs die Wut in ihm, weil ich nicht gehorchte. Aber uns trennten die
Höhe und eben die marode Dachbedeckung.
Irgendwann bequemte ich mich, dann doch vom Dach herunter zu klettern.
Vater hat mich angeschrien und an den Schultern geschüttelt. Und
ja, ich kann mich erinnern, es ist leider nicht bei der verbalen Ermahnung
geblieben. Er verabreichte mir ein paar Hiebe mit der flachen Hand auf
den Po.
Jegliche Erklärungsversuche meinerseits wischte Papa einfach beiseite,
sogar Stunden danach noch. Erst viel später hat er meinen Wunsch
verstanden, der mich zu der Kletteraktion getrieben hatte.
Ich wollte einfach mal ganz weit in die Ferne gucken können. Dass
die Dachbesteigung mit erheblichen Gefahren verbunden war, bedachte ich
nicht eine Sekunde lang. Ja, es war viel Glück und wohl auch die
Hand eines Schutzengels dabei im Spiel.
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