Leseprobe:
Sehnsucht zeigt den Weg (Maria Göthling)

1. Schlesien Im November 1942

„Bekanntmachung!“, schrie der Gemeindediener des kleinen schlesischen Dörfchens und schwang dabei eine Handglocke aus Messing wild hin und her. Der schleppende Gang und die nach vorn gebeugte Gestalt verrieten, dass die besten Jahre des Mannes bereits hinter ihm lagen. Die fadenscheinige, geflickte Steppjacke, die er trug, hatte auch schon bessere Zeiten gesehen. Viel nützte sie ihrem Besitzer bei dieser eisigen Kälte wahrscheinlich nicht. Aber das schien den Mann keineswegs zu stören. Zu sehr war er mit sich selbst und der Wichtigkeit seines Amtes beschäftigt.

Auf den Krach hin, den er veranstaltete, öffneten sich nach und nach alle umliegenden Fenster und Türen. Die Menschen steckten die Köpfe heraus, um zu erfahren, was die Obrigkeit denn dieses Mal zu verkünden hatte. Auch die siebzehnjährige Liesel Gerber und ihre um etliche Jahre ältere Schwägerin Bärbel unterbrachen die Arbeit und traten auf die Straße. Trotz der Kälte hatte jede im Hinausgehen nur eine Strickjacke über Kleid und Schürze gezogen. Man wollte schließlich nichts von der Meldung verpassen! Auch für Winterschuhe blieb keine Zeit. Die Frauen schlüpften schnell in derbe Pantinen mit dicken Sohlen aus Holz – das musste reichen. Obgleich sie nur einfache bäuerliche Kleidung trugen, bewegten sich beide mit einer Anmut und Grazie, die ihresgleichen sucht. Doch weder die Jüngere noch die Ältere schien das zu wissen. Ansonsten hätten sie nicht unterschiedlicher sein können. Liesel besaß, genau wie ihr großer Bruder Bertold, dickes, schwarzes Haar. Genau wie er blickte sie mit sanften, braunen Augen in die Welt.
Sah man in das Gesicht von Bertolds Frau Bärbel, vermisste man die Unbeschwertheit der Jugend. Der Ernst ihrer Gesichts­züge vermittelte Strenge und Konsequenz. Die graublauen Augen mit einem Stich ins Grünliche und die rötlichen Löckchen, die bei jeder Kopfbewegung auf und ab wippten, standen in krassem Gegensatz zu der leichten Melancholie, die sie umgab.
Zwei Häuser weiter erschien die etwas untersetzte Lene, Bärbels Freundin. Sie war ähnlich gekleidet wie die Gerbers, aber längst nicht so attraktiv wie ihre Nachbarinnen. Sobald sie Bärbel und Liesel erblickte, lief sie, so schnell es ihre Holzpantinen bei der Glätte gestatteten, auf die beiden zu. Aufgeregt wedelte sie dabei mit dem Brief, den sie in der Hand hielt.
„Nachricht von der Westfront – von August!“, rief Lene und strahlte vor Glück.
„Endlich!“, dachte Liesel und freute sich für sie. „Wie oft ist sie dem Postboten voll banger Hoffnung entgegengegangen, und wie oft ist sie mit sorgenvoller Miene und hängenden Schultern zurückgekehrt, wenn der wieder keinen Brief für sie hatte. Je länger sie auf ein Lebenszeichen von ihrem Mann warten musste, desto verzweifelter wurde sie.“
Lene nahm sich ständig vor, mit ihrem Kummer allein fertig zu werden, aber das schaffte sie nur in den seltensten Fällen. Obwohl sie wusste, dass Bärbel sie nicht verstand, ging sie doch immer wieder zu ihr. Jedes Mal, wenn sie meinte, die Last auf ihren Schultern nicht mehr allein tragen zu können, suchte sie sie auf. Es half ihr, mit der Freundin über ihre Pro­bleme zu sprechen. Die hörte ihr zwar zu, aber auf tröstende Worte wartete Lene meistens vergeblich.
„Keine Nachricht ist besser, als eine Todesnachricht“, so hatte sie sich erst neulich ihr gegenüber geäußert. Das wusste Lene selbst, das musste ihr niemand sagen, nicht einmal Bärbel. „Gott sei Dank, dass der Brief endlich da ist“, dachte auch Bärbel. „Langsam ging mir Lenerls ständige Jammerei auf die Nerven. Mein eigener Mann ist ebenfalls im Krieg. Auch ich habe schon lange nichts mehr von ihm gehört. Mache ich deshalb so ein Theater wie sie? Dafür habe ich gar keine Zeit! Obwohl – nachts, nachts quält mich die Sorge um meinen Bertel desto mehr. Wie eine Zentnerlast legt sie sich mir auf die Seele. Vor allem, wenn ich daran denke, dass er in Russland nicht nur die Armee, sondern auch die bittere Kälte gegen sich hat. Je länger er weg ist, desto größer wird meine Angst um ihn. Mehr als alles andere wünsche ich mir, dass er bald wieder heimkommt.
Aber meine Ängste, meine Sehnsucht – die gehen niemanden etwas an, weder Liesel noch Lene!“
Es war noch nie Bärbels Art gewesen, sich den Leuten zu öffnen. Sie hatte immer alles mit sich allein ausgemacht. Nur bei Bertel, da war das anders. Mit ihm konnte sie reden. Er verstand sie auch dann, wenn sie nichts sagte – na ja – meistens jedenfalls. Bärbel liebte ihren Bertel über alles.
Als er sie seinerzeit fragte, ob sie ihn heiraten wolle, hatte sie mit Freuden „Ja“ gesagt. „Uns gibt es aber nur im Doppelpack. Die Liesel, meine kleine Schwester, könnte ich niemals im Stich lassen. Seit Vater und Mutter nicht mehr leben, braucht sie mich mehr denn je.“
„Würdest du die Kleine abschieben, dann wärst du nicht der Mann, den ich liebe“, hatte sie ihm geantwortet.

„Was schreibt Onkel August denn?“, fragte Liesel die Nachbarin und deutete auf den Umschlag.
„Er war im Lazarett.“
„Warum?“, wollte sie nachhaken, wurde aber von Bärbel unterbrochen, die sich in das Gespräch einschaltete.
„Und – ist es schlimm?“
„Das hat er nicht verraten! Er schreibt zwar, dass es ihm gut geht und ich mir keine Sorgen machen soll, aber wenn alles so harmlos wäre, wie er mich glauben lassen möchte, bräuchte er solche Geheimniskrämerei nicht. Da wollen sie unsereinen schonen und machen mit ihrer falschen Rücksichtnahme alles nur noch schlimmer!“ Liesel hörte den beiden nicht mehr zu. Sie ärgerte sich darüber, dass Bärbel ihr ins Wort gefallen war.
„Ständig predigt sie Höflichkeit, aber für sie selbst gilt das wohl nicht. Bertel, du hättest mich ausreden lassen und nicht wie ein dummes Kind behandelt. Das hast du nie getan, nicht einmal, als ich noch ein Kind war! Ach Bertel, wo steckst du nur? Geht es dir gut oder liegst du, genau wie Onkel August, im Lazarett? Warum schreibst du nicht? Ich hab solche Angst, dass du mich vergisst und nie mehr zurückkommst. Hast du überhaupt eine Ahnung davon, wie sehr ich dich vermisse?“ Liesels Augen wurden feucht. Schnell drehte sie sich um. Bärbel musste das nicht sehen. Die hätte ihren Kummer sowieso nicht be­griffen, meinte sie. „Sie versteht mich eben nicht. Sie denkt, dass sie meine Mutter vertritt, weil ich noch so klein war, als sie dich geheiratet hat. Aber Mutter hätte mich bestimmt nicht ständig herumkommandiert. Ach Bertel, wenn sie nur ein bisschen so wäre wie du!“, setzte Liesel die stumme Zwiesprache mit ihrem großen Bruder fort. „Bertel komm nach Hause! Komm zurück zu mir!“, flehte sie in Gedanken und hoffte, dass ihr Bruder fühlen würde, wie sehr sie sich nach ihm sehnte.

„Bekanntmachung!“, schrie der Ausrufer erneut, um auch die Letzten auf sich aufmerksam zu machen. Die Gespräche der Umstehenden verstummten. Sie warteten auf das, was nun kommen würde. Aber statt endlich anzufangen, zog der Bote ein großes, rotkariertes Tuch aus der Hosentasche und putzte sich geräuschvoll die Nase.
„August bekommt Genesungsurlaub!“, flüsterte Lene ihrer Freundin zu. „Vielleicht ist er Weihnachten zu Hause!“
Endlich war der Gemeindediener soweit. Umständlich öffnete er die Mappe, die er unter dem Arm trug, schob seine Brille zurecht und begann mit lauter Stimme zu lesen:
„Der Herr Bürgermeister gibt bekannt:
‚Jeder Hof, dessen Bauer im Feld der Ehre für das Vaterland kämpft, bekommt Zivilarbeiter zugewiesen, weil …‘
„Sag` mal Kurtel, seid ihr jetzt alle verrückt geworden? Schickt uns Frauen fremde Männer ins Haus! Was weiß ich denn, was die im Schilde führen? Ich habe zwei Töchter! Kann der Bürgermeister mir für ihre und meine Sicherheit garantieren?“
„Mensch Lenerl, sei still!“, flüsterte Bärbel ihr zu. „Mach dich nicht unglücklich! Erreichst sowieso nichts!“
„Ist doch wahr!“

„… alles Nähere ist einem Aushang am Bürgermeisteramt zu entnehmen!“, fuhr der Gemeindediener ungerührt fort. Dann schlurfte er weiter zur nächsten Straße, schwang seine Glocke und sagte erneut sein Sprüchlein auf.

Bärbel und Lene sahen sich an. „Und nun? Was machen wir nun?“
„Was denn wohl? Wir gucken, was auf dem ‚Zettel‘ steht!“

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