 |
Leseprobe:
Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen (Julian Patzer)

Leseprobe
XII. Fazit Das Thema Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen,
mit der Ankunft und Integration im Westen ist ein Themenfeld, was sich
eigentlich nicht im Rahmen einer Bachelorarbeit untersuchen lässt.
Auch wenn vieles in dieser Arbeit nicht angesprochen werden konnte, weil
es sonst den Rahmen gesprengt hätte, gibt die Arbeit die Geschehnisse
und Emotionen in Ostpreußen und auf der Flucht ab dem Sommer 1944
bis zur Ankunft im Westen wieder. Den Schwerpunkt dieser Bachelorarbeit
sollten die Zeitzeugeninterviews und auch andere Erlebnisberichte aus
den Quellen bilden. Dass ich zu meinem Thema noch Zeitzeugen interviewen
konnte, war großes Glück, da diese Interviews, wie ich finde,
wahre historische Schätze sind. So schön wie die Interviews
auch jetzt geworden sind, so arbeitsintensiv waren sie auch in ihrer Vorbereitung,
Durchführung und besonders bei der Transkription. Ich bin Ingeborg
Eggers, Gisela Ehrenberg, Günther Grigoleit, Ilse Kuhrau und Inge
Teiwes zu großem Dank verpflichtet. Über ein schmerzliches
Thema, so offen mit mir zu sprechen, muss für meine Zeitzeugen auch
nicht einfach gewesen sein. Ich hatte auch noch eine andere Zeitzeugin
interviewen wollen, die schaffte es aber nicht mehr mental, über
die fürchterlichen Ereignisse ihrer Flucht zu sprechen. Das Pendant
zu den Quellen lieferte die Fachliteratur, die die Geschehnisse einordnen,
bestätigen oder widerlegen sollte. Der Fokus meiner Bachelorarbeit
lag somit darauf, wie damals junge Menschen die Flucht und Vertreibung
aus Ostpreußen in den Westen erlebten und wie diese Ereignisse ihr
weiteres Leben prägten. Ebenso wollte ich herausfinden, welche
Schicksale sie durchleben mussten und wie sich ihre Ankunft und die Integration
in der neuen Heimat im Westen gestaltete. Zentral waren dabei somit
die Gedanken, die Gefühle, die Ängste und auch die Sorgen der
jungen Ostpreußen, die sie noch in der Heimat, auf der Flucht und
nach Ankunft im Westen hatten. Das große Problem war dabei nur,
dass man in der Fachliteratur kaum Einblicke in Emotionen und Gefühlslagen
der Menschen aus Ostpreußen, geschweige denn von damals jungen Menschen
bekam. Die Fachliteratur ist selbstverständlich sehr sachlich und
objektiv geschrieben und beschreibt nur selten die Stimmungslagen
und Gefühle der Bevölkerung während der Flucht. Auch in
den zahlreichen Quellen der Fachliteratur, in denen die Menschen ihre
Fluchterlebnisse schilderten, konnte ich überwiegend feststellen,
dass sie das Erlebte fast immer nur sehr objektiv beschrieben und
nur wenig Emotionen zeigten. Meine Interviewpartnerinnen und -partner
gaben mir hingegen Auskunft über ihre Emotions- und Gefühlslagen.
Zusammenfassend kann ich also festhalten, dass ich durch die Literatur
nicht sonderlich viel zu Emotionen und Gefühlen der Betroffenen erfahren
konnte. Ich hätte mir da mehr aufschlussreiche Literatur erhofft.
Oftmals musste ich daher auch damals Erwachsene Zeitzeugen mit heranziehen,
da ich eben nicht genug junge Ostpreußen in der Literatur fand.
Die Menschen, die die Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen bewusst
miterlebten, haben oftmals nach dem Krieg auch nicht viel oder gar nicht
über das Erlebte gesprochen. Von meinen Eltern weiß ich, dass
unsere Familie die Flucht und Vertreibung aus dem Osten so gut wie nie
angesprochen hat. Es wurde vieles einfach totgeschwiegen. Wahrscheinlich
um die schlimmen Momente einfach zu vergessen und zu verdrängen.
Die Menschen, die das alles erleben mussten, wollten wahrscheinlich
einfach nach dem Krieg positiv und optimistisch nach vorne blicken und
nicht nur in der Vergangenheit leben. Tief im Herzen wird aber höchstwahrscheinlich
immer der Schmerz über den Verlust der Heimat und das Erlebte gewesen
sein. Die meisten Zeitzeugen haben das Erlebte mit sich selbst ausgemacht.
Meine interviewten Zeitzeugen haben mir gegenüber zwar sehr offen
ihre Erlebnisse geschildert und auch ihren Emotionen und Gefühlen
freien Lauf gelassen, trotzdem merkte ich an manchen Stellen der Interviews,
dass sie über gewisse Sachen entweder nicht sprechen wollten oder
konnten. Insbesondere das Thema Hygiene während der Flucht,
war ein sehr sensibles und kritisches Thema. Besonders schwierig müssen
die hygienischen Verhältnisse auf den Flüchtlingsschiffen gewesen
sein. Ilse Kuhrau beispielsweise wollte über die hygienischen Verhältnisse
während ihrer Flucht mit dem Schiff keine näheren Auskünfte
geben. Auch Ingeborg Eggers und Gisela Ehrenberg gaben mir in diesem Punkt
keine näheren Beschreibungen.577 Ebenso findet man auch bei anderen
Zeitzeugenberichten in der Literatur im Prinzip keine detaillierten Beschreibungen
zu diesem Thema. Auch in den Flüchtlingszügen müssen ähnlich
schwierige Verhältnisse geherrscht haben, die Günther Grigoleit
ansatzweise beschrieb.578 Nicht zu vergessen ist auch, dass ein Teil meiner
interviewten Zeitzeugen während der Flucht damals schon in der Pubertät
war und dass sie vielleicht durch die kaum dagewesene Privatsphäre
gewisse Probleme hatten. Darüber verloren sie aber auch kein Wort.
Um nochmal auf die Flucht an sich einzugehen: Bei keinem meiner Zeitzeugen
war die Flucht aus Ostpreußen im Vorfeld länger beziehungsweise
überhaupt geplant gewesen. Bevor für meine Zeitzeugen die Flucht
begann, musste alles sehr schnell gehen, da war eine längere Planung
gar nicht möglich. Die Flucht ging im Prinzip bei allen Zeitzeugen
von jetzt auf gleich los.579 Meinen Zeitzeugen hat man als Kind durch
Eltern oder anderen Familienangehörigen nicht direkt erzählt,
dass sie fliehen müssen. Vielleicht wollten die Erwachsenen diese
Situation selber nicht wahrhaben und deshalb haben sie mit den Kindern
erst gar nicht darüber gesprochen. Trotzdem wussten alle meine Zeitzeugen
im Prinzip, wieso sie aus ihrer Heimat Ostpreußen fliehen mussten.
Inge Teiwes war die einzige Zeitzeugin, die damals noch nicht so richtig
wusste, weshalb sie fliehen mussten. Höchstwahrscheinlich ist
das dem geschuldet, dass sie eben die Jüngste der Zeitzeugen ist.580
Alle meine Zeitzeugen fühlten sich an der Seite ihrer Familie scheinbar
ziemlich sicher und hatten nicht allzu oft Angst während der Flucht.581
Dadurch, dass die Front im Osten in den letzten Kriegsmonaten immer näher
rückte und die Rote Armee immer mehr Fluchtrouten abschnitt, entstanden
gewisse Fluchtmuster. Die meisten Ostpreußen gelangten besonders
gegen Ende des Krieges überwiegend mit dem Schiff in den Westen oder
über das zugefrorene Haff. Mit dem Schiff ging es für die Ostpreußen
dann entweder nach Dänemark, in die unzähligen Flüchtlingslager
oder in weiter westlich gelegene Teile Deutschlands. Die Menschen in den
ostpreußischen Städten nahmen bei Fluchtbeginn größtenteils
nur das mit, was sie tragen konnten. Die Landbevölkerung machte sich
hingegen überwiegend mit Pferd und Wagen, und allem, was auf den
Wagen passte, auf die Flucht.582 Zusammenfassend konnte ich feststellen,
dass für alle meine interviewten Zeitzeugen die Flucht aus Ostpreußen
in jeder Hinsicht ein einschneidendes und prägendes Erlebnis gewesen
ist, und was sie emotional auch mal mehr und mal weniger stark geprägt
hat. Trotzdem haben meine interviewten Zeitzeugen noch relativ viel Glück
auf ihrer Flucht gehabt. Wahrscheinlich auch deshalb, weil der Großteil
meiner Zeitzeugen durch ihre größtenteils östliche Lage
in Ostpreußen auch noch rechtzeitig fliehen konnten und somit nicht
von der Roten Armee überrollt worden. Ein Großteil meiner Zeitzeugen
zählte mit zu den ersten Flüchtlingen, die damals aus Ostpreußen
evakuiert wurden und somit ihre Heimat für immer verlassen mussten.
Keiner meiner Zeitzeugen hatte je Berührungspunkte mit der Roten
Armee. Sie blieben alle verschont vor den Gräueltaten der Sowjets.
Viele andere Flüchtlinge wurden dagegen, wie ich es in der Arbeit
detailliert beschrieben habe, auf verschiedene Weise Opfer der sowjetischen
Willkür. Als die Heimatvertriebenen in den Westen kamen, wurden viele
von ihnen von den Einheimischen nicht gut behandelt. Zwischen Einheimischen
und Heimatvertriebenen entstanden zum Teil große Spannungen. Die
Antipathie der Einheimischen gegenüber den Neuankömmlingen war
somit weit verbreitet und allgegenwärtig, wie ich bereits geschildert
habe. Dass es auch anders ging, bewies der Großteil meiner interviewten
Zeitzeugen. Inge Teiwes, Günther Grigoleit und Ilse Kuhrau erlebten
bei der Ankunft im Westen keine schlechte Behandlung oder Diskriminierung,
ganz im Gegenteil. Ingeborg Eggers und Gisela Ehrenberg hatten zwar dieses
eine negative Erlebnis bei dem Bauern in Wegensen, aber bei der Ankunft
in Holzminden blieben sie auch von unschönen Erfahrungen verschont.
Es gab also Fälle von Diskriminierung, aber nicht jeder musste sie
erleben.583 Ich würde aufgrund der Aussagen meiner Interviewpartnerinnen
und -partner behaupten, dass sie sich in der neuen Heimat gut in die Gesellschaft
integrieren konnten und dass ihr Neuanfang im Westen eine Erfolgsgeschichte
war. Natürlich lief im Leben meiner Zeitzeugen nach der Ankunft im
Westen nicht alles immer nach Plan, aber sie haben immer das Beste daraus
gemacht und sind heute, wie ich bei den Interviews empfand, mit ihrem
Leben rückblickend zufrieden. Mein ganzes Leben bestand aus
geschenkten Abenteuern, blickte beispielsweise Grigoleit auf sein
Leben dankbar zurück.584 Trotzdem konnten sie alle ihr vergangenes
Leben in Ostpreußen, was sie gezwungenermaßen zurücklassen
mussten, zeitlebens, unterschiedlich stark ausgeprägt, nie vergessen.
Die Sehnsucht nach der Heimat und der Schmerz über dessen Verlust
hat im Leben meiner Zeitzeugen immer eine Rolle gespielt, mal mehr und
mal weniger. Ingeborg Eggers und Gisela Ehrenberg fühlen sich heute
in Holzminden sehr zuhause und sind in der Gesellschaft integriert.
Ebenso gingen sie Jahrzehnte einer geregelten Arbeit nach. Trotzdem konnte
Eggers nie ihren Traumberuf als Lehrerin ausüben, da sie dafür
hätte studieren müssen und nach dem Krieg im Westen, kein Geld
dafür dagewesen ist. Wenn sie nicht hätte flüchten müssen,
hätte sie vielleicht Lehrerin werden können.585 Auch Günther
Grigoleits Berufswunsch konnte zunächst nicht in Erfüllung gehen
und er musste zunächst einen anderen Beruf erlernen. Er wollte ebenso
studieren, aber auch seine Familie hatte dafür nach dem Krieg kein
Geld. Erst über Umwege wurde er doch noch in späteren Jahren
Pastor.586 Ilse Kuhrau wollte Krankenschwester werden und wurde es auch.587
Inge Teiwes fühlt sich heute in ihrer zweiten Heimat, wie sie selber
sagte, auch sehr wohl.588 [Die Eingliederung der Flüchtlinge
und Heimatvertriebenen] war insgesamt eine Erfolgsgeschichte, in Millionen
von persönlichen und Familienkarrieren, aber auch in ihrer Gesamtheit
als gesellschaftlicher Integrationsprozess.589 Trotzdem glaube ich,
dass im Stillen jeder Ostpreuße, der damals seine Heimat verlassen
musste, darauf gehofft hat, eines Tages, auch wenn nur zu Besuch, wieder
in die Heimat zurückkehren. Nicht ohne Grund haben so viele Heimatreisen
seit der Wiedervereinigung stattgefunden. Auch meine interviewten Zeitzeugen
hatten scheinbar diese Sehnsucht, da sie mindestens einmal nach dem
Krieg wieder in ihrer Heimat waren.590 Ich bin der festen Überzeugung,
dass für den Großteil, wenn nicht sogar fast für alle
Ostpreußen, die einzige Heimat immer Ostpreußen blieb. Dieses
Empfinden hängt aber auch davon ab, wie viel man von Ostpreußen
noch mitbekommen hat, sprich, wann man geboren wurde. Je jünger ein
Zeitzeuge ist, desto weniger Emotionen werden wahrscheinlich an Ostpreußen
hängen. Inge Teiwes beispielsweise, die die jüngste der Zeitzeugen
ist, sieht sowohl Tilsit, als auch Merxhausen als ihre Heimat an. Für
alle anderen interviewten Zeitzeugen ist nur Ostpreußen die einzig
wahre Heimat.591 Ostpreußen ist heute eine Landschaft, die es so,
wie es meine Zeitzeugen erlebten nicht mehr gibt und auch nicht mehr wieder
geben wird. Der Untergang Ostpreußens mit seiner reichen Kultur
ist die Quittung für einen Krieg, den unsere Vorfahren begannen und
mit deren Konsequenzen wir leben müssen. Und trotzdem lebt der Mythos
Ostpreußen weiter und auch ich möchte eines Tages
das Land der Vorfahren besuchen. Um mit Günther Grigoleits Worten
diese Arbeit zu schließen: Ostpreußen ist ein Land,
das man einfach gesehen haben muss, mit seinen Wäldern, seinen Seen,
seiner Küste, um ahnen zu können, wie schön es sein kann,
da zu leben.592
zurück
|
|