Wenn mich die Muse küsst
Es kann immer geschehen, jederzeit. Es ist schon jederzeit geschehen
und es wird jederzeit immer wieder geschehen.
Meine Muse lauert oft in den unpassendsten Situationen auf mich
und springt mir in den Weg. Hallo, da bist Du, Du fährst
gerade im Feierabendverkehr? Du hast kein richtiges Papier? Das
ist gut so. Hier ist mein Geschenk!Und ich schreibe, ich kann
nicht anders.
Ich fummle aus meiner Tasche auf dem Beifahrersitz etwas Papierenes
heraus: ein Schulheft, und schreibe, während ich mit der linken
Hand über Kreuzungen, rechts links im Feierabendverkehr das
Auto herumbewege. Die Augen schauen durch die Windschutzscheibe
und die rechte Hand bewegt sich hin und her, auf und ab auf der
Beifahrerseite. An der roten Ampel sortiere ich rasch den Schreibtisch
und schon geht es weiter mit dem grünen Ampellicht. Alles ist
gut. Ich gehorche. Ich befinde mich in einer anderen Welt, bin nur
äußerlich als funktionierende Autofahrerin anwesend.
Der wesentliche Teil von mir ist auf Empfang geschaltet,
der unbegreifliche Kuss der Muse hat den Schalter umgelegt, macht
mich zum Empfänger und Betrachter irgendeiner Botschaft. Aha,
ein Gedicht ist entstanden, inspiriert von einer Steinskulptur,
zur Ausstellung vom Künstler gewünscht. Es gefällt
mir.
Das ist schnell entstanden. Aus einem Guss.
Hat die Muse mich wach geküsst, damit ich ihre Botschaft empfangen
kann oder hat sie meine kreativen Fähigkeiten aufgeweckt, damit
sie diese Botschaft jetzt entwickeln? Immer noch fahre ich im Feierabendverkehr.
Die Antwort auf diese Frage habe ich noch nicht gefunden. Mir scheint,
dass beides stimmt, denn beides ist nicht intellektuell zu beantworten,
entzieht sich also einer verstandesmäßigen Klärung.
Musen wohnen in einer anderen Welt. Dort gibt es unsere Gesetze
nicht, vermutlich gibt es gar keine. Die Welt meiner Muse muss ganz
nahe bei meiner liegen.
Einmal wachte ich nachts auf und ein Bild stand vor meinen Augen.
Eine Frau und Pflanzen und Früchte. Ich stand auf und begann
zu arbeiten. Aus Tonklumpen formte sich langsam das Bild. Viele
Tage und Nächte arbeitete ich in jeder möglichen Minute
daran. Zwischendurch ging ich in die Schule zu meinen Kindern. Das
Bild war stets präsent, ich habe es nicht verloren. Es plastizierte
sich weiter aus und die Hände wussten dann, was zu tun war.
Sie wurden immer geschickter. Es war, als würden sie selbst
ihrer Arbeit zusehen. Dann war es fertig und ich merkte, dass ich
sehr müde war. Es war ein halbplastisches Relief aus Ton entstanden.
Ich habe es gebrannt und schaue es oft an, um zu verstehen, was
es mir sagen will. Ich habe es Gaja genannt, Mutter Erde.
Meine Muse ist namenlos. Sie gewinnt im Entstehungsprozess ihr
eigenes Profil, ist ständig anwesend und formt durch meine
Hand hindurch. In ihrer Anwesenheit gibt es keine intellektuelle,
zeitliche Gliederung des Lebens. Sie bestimmt den Ablauf des Prozesses.
Sie gibt die Kraft, durchzuhalten, den Mut und das Vertrauen in
die eigene Fähigkeit.
Sie ist die Schöpferin meiner Kreationen, Geschöpfe,
ja es sind Geschöpfe, seien sie aus der Feder geflossen, oder
aus Ton dreidimensional gebildet, sie werden zu meinen Geschöpfen
und dadurch, dass sie mir etwas mitteilen, sagen, mich etwas erfahren
lassen, werden sie tatsächlich lebendig in mir. Manchmal spreche
ich mit ihnen, frage sie: Sag doch, was willst du mir zeigen?
Und dann erwarte ich die Antwort. Sie kommt immer und immer wieder
entwickelt sich aufs neue eine Zwiesprache, ein Gespräch. Manchmal
gehe ich ganz unvermutet zu einem Objekt, oder ich suche einen Text
und da habe ich wieder die Fortsetzung der Antwort und ich weiß:
Ah, ja, so ist das also gemeint. Das wollte ich ausdrücken.
Es eröffnet sich wieder eine neue Ebene, eine andere Sichtweise,
eine ungewöhnliche Perspektive.
Und da ist das tiefe Geheimnis mit dem Papier. Alles steht schon
auf dem Papier, auch dann, wenn es noch ganz weiß ist. Nach
dem Willen der Muse hole ich die Zeichen heraus, sie formen sich,
tanzen hin und her, sie lassen einen Sinn aufblühen, verschleiern
ihn wieder, lassen sich neu ordnen.
Die Muse lächelt: Ja, so geht es auch. Denk nach! Fühl
noch mal hin! Vielleicht ist es noch nicht zu Ende? Schreib es einmal
so!
Das weiße Papier steckt voller Geheimnisse. Es ist ein weißes
Nichts und Alles. Die Muse kennt alle seine Geheimnisse. Ja, es
ist wieder die Frage: hat die Muse mich geküsst, damit sie
ihre Botschaft durch mich mitteilen kann, oder hat sie meine Kreativität
wachgeküsst, damit ich ganz auf meine Weise ihre Botschaften
forme?
Wenn ich sie nicht forme, steht nichts auf dem Papier: ätsch,
Muse!
Aber es drückt mich so, ich kann nicht schlafen, nicht ruhig
sitzen, ich ergebe mich lieber. Es ist so spannend. Soll der Punkt
hier stehen? Ja. Es ist zu Ende. Die Muse lässt es zu. Sie
hat Erbarmen mit mir. Wer weiß, wann sie aus irgendeinem Grund
wieder auf gerade diese Stelle zurückkommt! Ja, ich will mich
ausruhen. Lass dieses Papier noch weiß, lass es noch so tief
sein, wie das Meer. Lass ihm noch sein Geheimnis. Wer weiß,
was wir heraufholen!
Jeder Kuss ist ein Geschenk und ich wäre töricht, wenn
ich es nicht annähme. In Wahrheit: ich kann gar nicht anders!
Wenn ich sie überginge, dann würde sie sich zurückziehen
und mein Leben wäre vorbei. Ohne sie wäre ich nicht Ich.
Ich bin Ich selbst nur durch sie. Jederzeit, in jeder Sekunde kann
ihr Kuss mir die Seele öffnen, meinen Denkhorizont weiten und
mich in einen schöpferischen Prozess bringen. Für mich
und mit mir und durch mich beginnt dann in dieser Sekunde der Prozess
der Schöpfung neu, dann, wenn die Quelle in mir zu sprudeln
beginnt.
Der Kuss der Muse setzt schöpferische, göttliche Energien
in mir frei, er bestimmt den Anfang der kreativen Tätigkeit
an deren Ende jeweils ein Geschöpf steht, ein Objekt, das ich
geschaffen, erschaffen habe. Diese Tätigkeit ist für mich
auch ein Weg der Selbstheilung, ein Weg, der mich heil macht, so
wie er für mich heilig ist. Es ist oft weniger ein intellektueller
Weg, als ein Weg, auf dem mich meine Muse in einem tiefen Spiel
begleitet. Ich darf für eine Weile im Vorhof ihrer Welt sein.
Ja, ist dieses Tun nicht vergleichbar dem Schöpfungsprozess
ringsum, der in jeder Sekunde neu ist und sich aus sich selbst heraus
wie endlos ständig wiederholt und alles Lebende neu gebiert?
In jeder Sekunde wird alles neu und doch immer auch anders geschaffen,
gemäß dem allem innewohnenden geheimnisvollen, nicht
erklärbaren Schöpfungsprinzip. Rota ator tora orat - frei
von mir übersetzt: der Ablauf der Schöpfung geschieht
nach dem ihr innewohnenden Gesetz. Ich verstehe, dass es der Lebenskreislauf
ist, gesetzt und eingebunden immer wieder zwischen den Wegmarken
von Geburt und Tod. Auch ich bin ein Bestandteil im Kreis dieser
Schöpfung, jede Sekunde werde ich durch mir unerklärliche
Prinzipien neu geboren.
Meine Muse, setzt durch ihren Kuss die mir innewohnende und mich
am Leben haltende Schöpfungsenergie frei, bringt sie zum Fließen,
macht mich durch mein kreatives Tätigsein selbst zur Schöpferin.
Würde diese Quelle versiegen, wäre ich als Schöpferin
gestorben im Moment. Sie ist für mich eine nicht erklärbare
Energie, die zielgerichtete kreative Tätigkeiten hervorbringt.
Ihr Kuss macht aus mir Frosch einen Prinzen.
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