Leseprobe:
Als Klöten Karl noch lebte - Ein Leben in Deutschland (Werner Heinemann)
Vorwort
Um die gesamten Ereignisse im Zusammenhang mit dem Leben und Tod des
Gottfried Zeller in einem Protokoll zu dokumentieren, bedarf es mindestens
satte 500 beschriebener Seiten Papier. Nur die Hälfte Papierbedarf
darf angesetzt werden, wenn nicht ganz unberechtigt angenommen wird, dass
der Lebensalltag des Gottfried Zeller phasenweise stinknormal oder schlicht
uninteressant verlief.
Auch sollen nur die sehr wahrscheinlich sicheren Erkenntnisse über
Zeller erfasst werden. Damit dürfte sich die Anzahl der Blattseiten
im DIN-A4-Format auf 150 reduzieren.
Einige Zeit bevor auch ich die Bekanntschaft Gottfried Zellers machte,
trat bereits der kurz nach ihm verstorbene Klöten Karl in seinen
Lebenslauf. Die derbe Ausdrucksweise, mit der ein kleiner Kerl bezeichnet
wurde, wird in dieser Erzählung beibehalten, weil die Authentizität
gewahrt werden muss. Die Lebensspanne Klöten Karls stellte den prägenden
Zeitraum dar, den ich bis heute mit Gottfried Zeller verbinde.
Zunächst muss Gottfried Zellers Werdegang skizziert werden, weil
eine Sozialanamnese uns Zeller als eine einmalige Person vorstellt und
ihn in seiner Umwelt wachsen lässt. Er wird dann hoffentlich so bekannt
oder gar vertraut, wie es uns unverwechselbare Individuen sind, die einen
Platz in unserer Interessensphäre gewonnen haben. Dieser Lebensabschnitt
Zellers, der hier vorerst beschrieben werden soll, liegt allerdings vor
jener Zeit, als Klöten Karl noch lebte.
1. Kapitel
Im Jahre 1936, während der Olympischen Spiele in Berlin, kam Gottfried
Zeller in einem Heuhaufen als Frühgeburt zur Welt. Das Heu lag locker
geschichtet in einer Feldscheune nahe dem Ort Trakehnen, dem heutigen
Jasnaja Poljana im Oblast Kaliningrad, einer Regionalhauptstadt, die manchem
Zeitgenossen noch heute unter ihrem ursprünglichen Namen Königsberg
geläufig ist.
Die Wahl des Orts ihrer Niederkunft war eine Notlösung für Zellers
Mutter. Beim Wenden halb getrockneten Grases traten viel zu früh
die Wehen ein. Die robusten Frauen, die mit ihr unter freudig strahlender
Sonne arbeiteten, beschwichtigten: halb so schlimm! Entschieden dann aber,
dass eine von ihnen, die Schwangere bis zur nahegelegenen Scheune begleiten,
eine andere Hilfe herbeiholen sollte.
Ansonsten waren sich die Frauen auch grundsätzlich einig und schimpften
über die Männer. Keiner war mit Pferd und Wagen in der Nähe.
Und überhaupt: Wenn man die Kerls schon mal braucht
Zellers Mutter hatte ihm so oder so ähnlich den Tag seiner Geburt
im Heuhaufen eines Schobers nahe Trakehnen in Ostpreußen geschildert.
Ironischerweise griff er später bei passender Gelegenheit immer mal
wieder kopfschüttelnd den Spruch auf: Wenn man die Kerls schon
mal braucht
Er fügte dann aber meist betont ernsthaft
relativierend an:
werden wohl anderswo sinnvoll beschäftigt
sein.
Für Zeller, das Frühchen, gab niemand auch nur einen Pfifferling.
Auch nicht der verantwortliche Doktor der ersten medizinischen Untersuchung
des Babys; ein Tierarzt, ein Spezialist für die veterinäre Versorgung
der berühmten Pferde, die man nach dem Ort Trakehnen Trakehner nennt.
Der kleine Gottfried war zu klein, zu schwach eben viel zu früh.
Ich habe in allen erdenklichen Lebenslagen nie das Gefühl gehabt,
zu spät zu sein. Aber ich habe immer eine Höllenangst davor,
zu früh zu kommen, hatte Zeller in Anlehnung seiner eigenen
Frühgeburt mehrfach behauptet und jede zotenhafte Deutung seiner
Höllenangst entrüstet zurückgewiesen.
Die Mutter des Babys war nach kurzem Durchschütteln, wie Zeller später
meinte, schon kurz nach der Niederkunft wieder auf den Beinen und trug
ihren Gottfried höchstpersönlich aus der klapprigen Feldscheune
hinaus.
Vorübergehend, das hieß, bis zum sicher geglaubten, nahe bevorstehenden
Ableben des Säuglings, durfte die Mutter als Magd im Innendienst
arbeiten. Doch Gottfried überlebte auch die Nottaufe und seine Mutter
päppelte das winzige, zarte Leben bis zum Winterbeginn zum Vorzeigewonneprop-pen
auf.
Soviel man weiß, brauchte Zellers Mutter fortan als zuständige
Magd für die Versorgung der Hühner nur noch gelegentlich als
Aushilfe schwere Feldarbeit verrichten. Zeller rechnete sich das als seinen
Verdienst an.
Ein Verdienst aus Schwäche, ist ein doppelter Verdienst,
behauptete er einmal, obwohl er meist seinen starken Lebenswillen hervorhob,
der stets jede Schwächephase besiegt habe.
Bekanntlich haben wir alle eine Mutter und einen Vater. Diese banale Tatsache
hatte damals noch eine größere emotionale Bedeutung und war
nicht wie heutzutage eine durch gebildete Propaganda überwiegend
auf biologische Erkenntnis herabgewürdigte Seelenlosigkeit.
Kompliziert gestalten sich jedoch zu allen Zeiten einige Vaterschaften,
die auch nicht selten geleugnet werden. Zellers Vater blieb gänzlich
unbekannt. Eine Frau musste den Vater des kleinen Gottfrieds aber wenigstens
für entscheidende Augenblicke gekannt haben. Logisch: Zellers Mutter
selbst. Diese aber gönnte sich verschiedene Kandidaten und durchaus
mehrere entscheidende Augenblicke, die eine Inkubationszeit bis zu Zellers
Geburt hätten auslösen können.
Kurzum: Zellers Mutter mochte sich nicht auf einen von fünf infrage
kommenden Männern festlegen. Die wiederum waren mit ihrer Entscheidung
sehr einverstanden. Das Baby trug übrigens selbst nicht zur Klärung
der Vaterfrage bei. Es sah keinem der Kandidaten, die für die Schwangerschaft
der Mutter einen entscheidenden Beitrag geleistet haben konnten, auch
nicht im Entferntesten ähnlich. Das ließ konsequenterweise
den Verdacht eines sechsten potenziellen Erzeugers aufkommen. Diese Unterstellung
verbat sich Zellers Mutter mit Nachdruck.
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