Leseprobe:
Die Glocke von Sankt Anna (Sarina M. Lesinski)
1. Kapitel: Der Entschluss
Leonore saß versteckt unter einer knorrigen alten Weide, deren peitschenförmige
Äste beinahe das Wasser berührten. Sie hatte sich mit Thomas
gestritten. Das allein war schon schlimm genug, aber dass ihre Freundin
Hanna sich auch noch gegen sie gestellt hatte, empfand Leonore als Verrat.
Trotzdem musste sie zugeben, dass sie selbst schuld an der ganzen Sache
war. Im Stillen hoffte sie, dass Hanna auch heute Morgen zu ihrer Großmutter
nach Geringen unterwegs war. Der Weg in das kleine Nachbardorf führte
direkt am See vorbei.
Versonnen schaute Leonore in das Wasser, das die Sonne in flüssiges
Silber verwandelt hatte. Eine Fahrradklingel schreckte sie aus ihren Gedanken
auf. Es war Alex, Thomas Freund. Er lehnte das Rad an den Stamm der Weide
und fragte: Was war gestern eigentlich los? Ich habe Thomas gefragt,
aber der rückt nicht mit der Sprache heraus. Sagst du mir, worüber
ihr gestritten habt?
Leonore winkte ab: Es war blöd von mir, vergiss es einfach!
Ging es wieder um die Glocke im See? Alex setzte sich neben
Leonore und sah sie an.
Natürlich, worum denn sonst? Thomas will einfach nicht glauben,
dass die Geschichte wahr ist. Seit gestern scheint niemand mehr daran
zu glauben, außer mir. Leonore strich sich eine braune Haarsträhne
aus dem schmalen Gesicht.
Ich denke, Hanna und Thomas haben die Sache nur abgestritten, weil
sie glaubten, dadurch erwachsener zu wirken. In Wirklichkeit würden
sie die Glocke genauso gern heben wie du und ich. Alex beobachtete
die Wasseroberfläche, die sich im leichten Sommerwind kräuselte.
Auf der anderen Seite sah man die roten Dächer von Geringen und die
schieferbeschlagene Spitze des Kirchturmes. Etwas weiter rechts lag auf
einem kleinen Hügel die Ruine des Klosters Sankt Anna.
Wann warst du eigentlich zum letzten Mal drüben in Sankt Anna?,
fragte Alex unvermittelt.
Ist ... schon ... eine Weile ... her, stotterte Leonore überrascht.
Wie kommst du darauf?
Na, ja ... schließlich ist das Kloster doch ... der Anfang
... der alten Geschichte, oder?
Schon ... aber es gibt dort nirgends einen Hinweis darauf, dass
die Glocke wirklich existiert hat.
Weil wir noch nie gründlich danach gesucht haben. Alex
blieb hartnäckig.
Gut, lass uns hinfahren! Entschlossen stand Leonore auf und
ging zu einem nahegelegenen Hundsrosenstrauch, unter dem sie ihr Fahrrad
abgelegt hatte. Mit Hanna war wohl nicht mehr zu rechnen, worauf sollte
sie also noch warten. Die beiden schwangen sich auf ihre Räder und
radelten los. Sie nahmen den kürzeren Weg, rechts am Ufer unter den
großen Bäumen entlang, die Schatten spendeten.
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