Leseprobe:
Via Sanguinosa
(Sarina M. Lesinski)

Wehmut schwang mit in dem Seufzer, den Alicia ausstieß. Sie stand auf dem Balkon der geräumigen Villa und blickte über den See zu der verwinkelten mittelalterlichen Stadt hinüber. Autos, klein wie Spielzeuge, fuhren die Uferstraße entlang, vorbei an der alten Burg, die mit ihren Mauern und Türmen zusammengedrängt auf einem Hügel direkt am Wasser hockte. Leichter Wind kräuselte die Oberfläche des Sees, auf dem sich bereits die Surfer tummelten. In der Ferne blinkten zwei weiße Segel.
Es war einfach schön hier und Alicia wäre gern noch geblieben, doch sie musste nach Perugia, die Geschäfte ihres verstorbenen Vaters abwickeln. Ein leichtes Unbehagen stieg in der jungen Frau hoch bei diesem Gedanken. Alicia musste feststellen, dass sie eigentlich gar nichts von ihrem Vater wusste. Als er vor zwanzig Jahren sie und ihre Mutter verließ, war Alicia gerade dreizehn Jahre alt gewesen. Lange Zeit hatte sie ihrer Mutter die Schuld an der Trennung gegeben, wodurch sich Mutter und Tochter frühzeitig fremd wurden. Damals war Alicia der festen Überzeugung gewesen, dass ihr geliebter Vater sie nach Italien mitgenommen hätte, wenn die Mutter nicht dagegen gewesen wäre. Ihren Irrtum erkannte Alicia erst Jahre später, als der Kontakt zu ihrer Mutter längst verloren gegangen war.
Viktor Hannlinger war Kaufmann gewesen und dadurch viel unterwegs. Sein Metier waren Stoffe aller Art. Einmal hatte er seine Tochter mitgenommen in eine große Weberei, wo wundervolle Seiden hergestellt wurden. Mit zwölf begleitete sie ihren Vater auf einer Geschäftsreise nach Florenz, wo er Stoffe für Klingers Schneiderei einkaufte.
Doch das alles war lange her. In den letzten Jahren war der Kontakt zum Vater immer spärlicher geworden und schließlich ganz abgebrochen. Erst als er nach einem schweren Autounfall im Krankenhaus von Verona lag, hatte er sich wieder bei Alicia gemeldet. Sie war sofort zu ihm gefahren, doch sie kam zu spät. Als sie in Verona eintraf, war Viktor bereits verstorben. Man händigte ihr seine persönlichen Sachen aus, darunter auch die Schlüssel für diese Villa hier oben auf dem Berg in Tremosine.
Die Ereignisse der letzten Tage hatten ihr nicht viel Zeit gelassen, das wunderschöne Haus zu genießen. Gleich nach der Beerdigung war Alicia darangegangen, die Geschäftsbücher des Vaters durchzusehen.
Viktor Hannlinger war ein ordentlicher Mann gewesen, der seine Rechnungen immer pünktlich bezahlt hatte. Das erleichterte die Arbeit enorm. Es gab keine Mahnungen, um die sich hätte kümmern müssen. So setzte sie zunächst einmal die langjährigen Geschäftspartner ihres Vaters von dessen Ableben in Kenntnis.
Gestern war nun Angelo Toscarani bei ihr gewesen und hatte ihr mitgeteilt, dass ihr Vater in Perugia ein ziemlich großes Warenlager besaß, dessen Bestand zu einem Drittel den Toscarani-Brüdern gehörte. Angelo hatte ihr angeboten, den kompletten Warenbestand aufzukaufen und Alicia hätte dem sicherlich zugestimmt, wenn der grauhaarige Italiener nicht so nervös gewesen wäre.
Der Kaufpreis, den er Alicia nannte, war enorm, mit Sicherheit mehr als doppelt so hoch wie der eigentliche Wert der Ware.
Das alles hatte sie stutzig werden lassen. Nichts hasste Alicia mehr, als für dumm verkauft zu werden. Deshalb wollte sie sich selbst einen Überblick verschaffen.
Per Telefon hatte sie in Perugia ein Hotelzimmer für zwei Tage gebucht.
Nach einem letzten langen Blick über den See schloss sie die Balkontür, nahm ihren Rucksack und verließ das Haus.
Der Laguna stand in der Auffahrt. Sie warf den Rucksack auf den Rücksitz und schwang sich hinter das Lenkrad. Vorsichtig steuerte sie den Kombi die schmalen Serpentinen hinunter bis zur Küstenstraße, wo sie zunächst in Richtung Sirmione fuhr. Es war ein heißer Junitag und sie würde einige Stunden unterwegs sein, deshalb stellte Alicia die Klimaanlage an. Wieder spürte sie das leichte Unbehagen in der Magengegend, als sie überlegte, was sie wohl in Perugia erwarten würde.


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