Leseprobe:
Das Lied vom wilden Thymian (Ina Müller)

ab Seite 103

Dann mussten sie auf die Bühne. Als sie alle auf ihren vorgesehenen Plätzen postiert waren, schaute Katharina der Reihe nach auf ihre Mitstreiter. Dieser Augenblick würde ihr ewig in Erinnerung bleiben. Ihre Freundin Debsy saß vorne, das blitzende Akkordeon auf den Knien, die langen glänzenden schwarzen Haare wie einen Schleier um ihre Schultern gelegt. Zur Feier des Tages trug sie lange silberne Ohrringe, die mit ihren strahlenden dunklen Augen um die Wette blitzten. Die roten Lippen betonten den schönen Mund und das vertraute liebe Lächeln, mit dem sie jetzt gerade auf Caroline blickte, mit der sie sich unterhielt. Letztere trug ein enges dunkles Kleid, das ihre große schlanke Gestalt betonte. Sie war geschickt und dezent geschminkt, ihr heller reiner Teint brauchte kaum Unterstützung und die leicht geröteten Wangen setzten einen frischen Akzent. Ihr hellblondes Haar war in einem Knoten zusammengefasst, was ihr einen ernsthaften, konservativen Eindruck verlieh und wieder einmal an die berühmte Fürstin von Monaco denken ließ. Katharina fand beide Frauen wunderschön und war stolz, für die Aufführung Teil einer so kompetenten und ansehnlichen Band zu sein. Denn auch die Herren hatten sich in Anzüge geschmissen. Sie selbst trug ein neues Kleid aus feiner Wolle und hatte ihr jetzt längeres Haar mit einem Band zusammengefasst. Ihr war selbst nicht bewusst, wie hübsch auch sie aussah.
Ihre Stücke rauschten dann wie ein Film vorbei. Sie hatte sich vorgenommen, bestimmte Akzente zu setzen, auf Dinge zu achten – vorüber. Dem rauschenden Beifall am Ende entnahm sie, dass alles gut gelaufen war, doch an Einzelheiten konnte sie nichts mehr zurückrufen. Ein wenig ärgerte sie sich, dass sie so unprofessionell war, doch das konnte sie dann nur beim nächsten Mal verbessern. Nächsten Mal? Würde sie denn jetzt regelmäßig auftreten? War sie jetzt Mitglied einer Band? Gehörte sie wirklich dazu? Es erschien ihr ungeheuerlich, nach dem zaghaften Beginn in dem fremden Land nun aufgenommen zu sein im Kreise einer musizierenden Gemeinschaft, keine Fremde mehr zu sein. Als die folgenden Gruppen ihre Stücke spielten und ihre Aufregung sich gelegt hatte, gingen diese Gedanken durch ihren Kopf und sie spürte eine Wärme in sich wie nie zuvor. Sie musste ein wenig gegen Tränen kämpfen, als sie verstohlen um sich blickte und Debsy und Ed, Brian, Caroline und Greg um sich herum sitzen sah. Freunde!
Jede Gruppe spielte zunächst nur die geplanten Stücke. Es war vereinbart, nach dem Durchlauf aller noch Zugaben zu geben, wenn vom Publikum gewünscht. Anschließend war open end mit Session. Es würde eine lange Nacht der Musik werden!
In der Pause konnten sich Musiker und Zuschauer erst mal stärken. In der Eingangshalle des Hauses waren eine Bar sowie Tische mit Salaten und Sandwiches aufgebaut. Es gab dort ein ganz schönes Gedränge, doch das machte nichts. Die Verpflegung war reichhaltig, die Stimmung gut und das Bier floss reichlich.
Unter den Musikern fand ein reger Austausch statt. Katharina sah Greg mit den beiden Irinnen zusammenstehen und hörte den fremden gälischen Klang. Scheinbar radebrechten sie in ihren unterschiedlichen lokalen Dialekten und hatten einen Heidenspaß damit.
„Die studieren auch Kunst, im ‚Lady Margaret Hall‘“, erklärte Debsy. „Ich habe sie letztens zum ersten Mal in der Bodleian gesehen. Sie sind wohl noch nicht lange da und wollen im Sommer wieder weg.“ Katharina bedauerte das. Diese beiden Erscheinungen brachten frischen Wind in das sonst schon etwas verstaubte Collegeleben.
Die beiden jungen Frauen gesellten sich zu Colin, Michael und Caroline, die mit einem Schlagzeuger aus einer der anderen Bands an seinem Instrument standen. Sie sprachen über Elvis und Rock ´n` Roll. Der Schlagzeuger hatte einen Haarschnitt, der stark Richtung presleyscher Haarlocke tendierte.
Plötzlich wurden aus der Nachbargruppe Stimmen laut. Es wurde gepöbelt. Katharina durchfuhr ein eisiger Schreck und sie spürte eine Klammer in ihren Magen greifen, als sie die Worte „Kraut“ und „Hitlergirl“ hörte. Das englische Duo, Männer mittleren Alters, die vermutlich im Krieg gekämpft hatten, ließen ihrem Deutschenhass freien Lauf! Mit roten Gesichtern, eine Flasche Bier in der Hand, schauten sie feindselig zu der Deutschen und ihren Bekannten hinüber.
Um die beiden Gruppen wurde es unruhig. Was tun? Am liebsten hätte sie die Flucht ergriffen, doch das ging wohl nicht. Sie sah, wie sich viele Köpfe drehten, spürte aber auch ein Zurückweichen in ihrer Nähe. Würde sie gleich bloßgestellt sein? Wie viele der Anwesenden waren noch der gleichen Meinung wie die beiden Männer? Voller Angst schaute sie auf ihre Freunde.
Dann spürte sie, wie sich ein Arm um sie legte. Der große Colin mit dem freundlichen Gesicht! Er blickte nicht mehr freundlich, aber ruhig und bestimmt auf die beiden Querulanten.
„Kate ist unsere Freundin. Sie macht tolle Musik. Und im Krieg hat sie nicht gekämpft“, versuchte er, humorvoll die Schärfen abzubiegen. Doch die Rotgesichtigen ließen sich nicht besänftigen.
„Was will sie hier, sie soll zurück in ihr Naziland gehen!“
Brian stand auf Katharinas anderer Seite und ballte die Fäuste. Für ihn war es ein nicht ganz unwillkommener Anlass, sich mal wieder zu prügeln. Doch das durfte nicht geschehen! Dieses friedliche Musikevent durfte auf keinen Fall durch eine Schlägerei überschattet werden! Um die Pöbelnden herum standen auch ein paar Leute, von denen nicht eindeutig klar war, für welche Partei sie waren oder für wen sie zuschlagen würden, wenn es dazu kam.
Katharina hatte das Gefühl, wenn man die beiden aggressiven Männer ihres potentiellen Beistandes berauben könne, würden sie klein beigeben. Man müsste sie isolieren und dadurch entwaffnen! Da kam ihr eine Idee. Sie bezwang ihre Angst und stieg auf die Bühne, an eines der noch eingeschalteten Mikrofone. Es kostete sie große Kraft, ihre Stimme zu erheben. Doch sie musste die Situation retten und sie konnte das am besten!
„Hallo, allerseits“, wandte sie sich an die unter ihr wogende, wimmelnde Masse von Menschen. „Mein Name ist Katharina. Ich komme aus Deutschland. Ich studiere hier in Oxford englische Geschichte und Literatur.“ Sie stockte. Hörte ihr jemand zu? Egal, nun musste sie durch.
„Ich liebe Musik. Die Musik, die wir heute hier machen. Und ich möchte meinen Dank aussprechen an die Menschen, die mit mir zusammen Musik machen. Ich habe hier in England Freunde gefunden. Ich bin sehr glücklich darüber. Und daher möchte ich, dass jeder hier heute Spaß hat.“ Sie machte eine Pause und versuchte, in der Menge Gesichter zu erkennen. Ging gleich der Kampf los? Oder waren die Aggressoren besänftigt? Es fiel ihr nicht mehr ein, daher schloss sie:
„Bleibt bitte friedlich, Leute. Und nochmals an meine Freunde: Ich danke euch allen. Ich liebe euch sehr.“
Ein Gemurmel war zu hören. Sie stieg von der Bühne und ihre Knie gaben nach. Sie zitterte am ganzen Körper, als Colin sie zu einem Stuhl führte. Ed holte ein Glas Wasser und Greg war plötzlich da, hob grinsend und verlegen sein Bierglas und lobte: „Das hast du schön gesagt, Kleine. Wer kann da noch zuschlagen?“
Und von Caroline kam: „Das war sehr mutig.“ Wie sie das aufrichtete!
Die beiden Pöbelnden waren verstummt und anscheinend wirklich entwaffnet! Sie sah aus ihrer Perspektive nicht, wie sie von ein paar bulligen Helfern und dem Techniker hinausgebracht wurden. Wayne, der Hausherr, war nicht da, um die Kontrolle zu übernehmen. Und sie vermisste Debsy! Wie gerne hätte sie sich in ihre Arme geworfen und geweint! Wo war denn die Freundin?
Auch von den anderen ihrer Bekannten kam Beifall. Weniger ihre Worte als ihre zarte Erscheinung und ihr bescheidenes Auftreten hatten die Wogen besänftigt und den Dolchen die Spitze genommen. Alle, die vielleicht in Kampfesstimmung und Bierlaune den beiden Querulanten geholfen hätten, waren beschämt worden.
„Das ist immer dasselbe“, knurrte Ed. Er schien auf einmal richtig schlechter Laune zu sein. „Sie sind prinzipiell gegen Studenten. Meistens gegen uns Männer. Wir nehmen ihnen nämlich die Frauen weg. Haha. ‚The town‘ against ‚the gown‘. Dass ich nicht lache.“ Und er trank in einem Zug sein Glas aus. Die Anderen schauten etwas befremdet.
Doch nun begann der zweite Teil des Musikabends und die Gruppen formierten sich wieder, um die geforderten Zugaben zu spielen. Michael sprang von einem zum anderen, um alles zu ordnen. Die meisten Bands hatten Zugaben in ihrem Repertoire parat. Bei Katharina und ihren Freunden war das Thema nicht klar. Und Debsy fehlte! Wo war sie bloß?
So mischten sie sich spontan mit den ‚Strumming Strings‘, Michael und Caroline intonierten mit Mandoline und Geige den ‚Mingulay boat song‘, der durch Greg und seine Tin Whistle vervollständigt wurde. Katharina sang die Hauptstimme, wieder ganz gekräftigt, und am Ende sangen fast alle Anwesenden den Refrain mit. Dann tauchte doch noch Debsy aus der Menge auf und kam Richtung Bühne, sie sah erhitzt aus und entschuldigte sich knapp und etwas verlegen, als sie sich setzte und ihr Akkordeon ergriff. Als Katharina Richtung der Herannahenden geschaut hatte, sah sie plötzlich auch Wayne an die Eingangstür des Raumes gelehnt stehen.
Sie spielten noch einen Reel mit allen Instrumenten, die sie gemeinsam mit den ‚Strumming Strings‘ aufboten, dann waren die Nächsten dran. Am Ende des Zugabeteils gab es wieder tosenden Beifall und alle Musiker zusammen gaben noch einen letzten Song. ‚Will ye go, lassie, go‘ brandete mit instrumentaler Klangfülle eines Orchesters der Chor sämtlicher Anwesenden auf und es war wie eine Hymne an die Freude, Freundschaft und das Leben: „ ... and well all go together ...“ Der unschöne Zwischenfall mit dem pöbelnden englischen Duo war vergessen.
Nach einer kurzen Pause, in der mehr als die Hälfte der Zuschauer und zwei Bands sich verabschiedeten, ging es an die Session. Hier war die Experimentierfreude der Musiker Trumpf. Wayne war jetzt mitten unter ihnen und tat manchmal interessante, manchmal sinnlose Ideen kund. Die wildesten Instrumentenkombinationen wurden ausprobiert, neue Rhythmen und Klangspiele gefunden. Aus dem noch verbliebenen spärlichen Publikum kamen Requests, die meist willig und begeistert aufgenommen und von irgendeiner Musikerzusammenstellung intoniert wurden.
Nur wenige Details blieben der Deutschen von der Session in Erinnerung. Colin, wie er abwechselnd an seiner Pfeife paffte und die Saiten seines Basses zupfte, Caroline, wie sie erhitzt und mit funkelnden Augen jede neue Melodie aufgriff und mit ihrem Geigenspiel veredelte, Michael, der in seinem Gedächtnis unendlich viele Lieder gespeichert zu haben schien und sie herauszog, wenn niemandem mehr etwas einfiel. Greg, der sicherlich betrunken, aber mit klarer Glockenstimme seinen Tenor zum Gehör brachte. Debsy, deren schwarze Mähne kokett um ihre Schultern flog, während ihre flinken Hände über die Tasten flitzten.
Für Katharina gab es so viel Neues, so viele Anregungen, so viele wunderschöne Lieder, die sie alle unmöglich aufnehmen und verarbeiten konnte. Als alle zusammen schließlich mitten in der Nacht zu Fuß den Weg in die Stadt antraten, die meisten mit irgendeinem Instrument auf den Rücken geschnallt, summte es in ihrem Kopf wie in einem Bienenstock. Mit dem Alkohol hatte sie sich zurückgehalten, doch die Aufregung um den Auftritt und später das aggressive Duo, die ausgestandene Angst und Kraftanstrengung ihrer Ansprache steckten ihr in den Knochen, so dass sie eine bleierne Müdigkeit und Erschöpfung empfand. Die Anderen waren teilweise ganz schön abgefüllt, doch auf lustige Weise. Debsy hatte Katharina untergehakt und zog mal nach der einen, mal nach der anderen Seite. Ed war ganz hinten neben Greg und auch der ernsthafte Musikstudent schien diesmal viel mehr, als normal getrunken zu haben. In der Stadt zerstreuten sich alle ohne großes Abschiednehmen, alle waren jetzt doch todmüde. Aber zufrieden.

 

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