Leseprobe:
Spitzentanz(Johanna G. Lenz)

Der Baum meiner Kindheit

Die mächtige Weide hinten im Garten unweit des nicht minder stattlichen Walnussbaumes. Dahinter fließt ein Bach, jenseits des Drahtzaunes, durch Nachbars Garten.
Ich hätte der Mutter in der Küche helfen sollen, aber ich habe nur Heidi und Geißenpeter im Kopf und schleiche mich davon mit meinem Buch.
Durch Gestrüpp und Brennnesseln bahne ich mir den Weg zu der dicken Weide, die drei Männer umarmen könnten. Das Buch zwischen den Zähnen haltend, nehme ich Anlauf, springe, fasse Tritt in der rissigen Borke des Stammes und ergreife den mir nächsten Ast. Dann schwinge ich mich hinauf in mein Versteck. Mehrere starke Äste zweigen hier ab. Dazwischen haben die beiden Cousins bei einem ihrer Besuche zwei Bretter genagelt. Ich setze mich auf die Bank und vertiefe mich in mein Buch. Die silbrig grünen Weidenblätter umfächeln mich und hüllen mich ein. Erst der Ruf der Mutter holt mich in die Gegenwart zurück.
Vater mäht auf mein Betteln hin die Brennnesseln ab und hängt ein Seil zwischen einen starken Weidenast und den Nussbaum. Eine weit schwingende Schaukel für mich und meine Freundinnen. Wir legen ein Kissen auf das Seil, damit wir gut darauf sitzen können. Das werden kurzweilige Sommertage.
In sehr kalten Winternächten erfriert der Walnussbaum. Er wird im darauf folgenden Frühjahr gefällt, zugleich werden auch der Weide alle Äste abgesägt, der Nachbar hat es so verlangt. Nur die Bank hängt noch schief und traurig auf dem Weidenstamm. Ich weine. Keine Schaukel mehr, kein Versteck! Mutter tröstet mich.
„Mein großes Mädchen muss nicht mehr auf dem Baum lesen, setz dich doch unter den Kirschbaum!“
Im darauf folgenden Jahr wachsen am Weidenstamm viele neue Zweige, er bekommt einen dichten Wuschelkopf. Ich möchte wieder hinauf klettern. Vater warnt mich:
„Vorsicht! Die neuen Äste sind noch schwach, – Klebeäste – sie brechen leicht vom Stamm. Außerdem bist du gewachsen und nicht mehr so leicht.“
Einige Wochen später an einem sonnigen Sonntag im Spätsommer ist Besuch gekommen. Alle sitzen im Garten unter dem schattigen Kirschbaum um den Kaffeetisch. Mir wird es nach einiger Zeit langweilig unter den Erwachsenen. Ich denke an Miriam und Totila und hole mir mein Buch: Ein Kampf um Rom. Ich möchte mich wieder einmal in meine grüne Höhle zurückziehen. Die jungen Äste sind jetzt kräftiger geworden. Das Buch zwischen den Zähnen, springe ich wie gewohnt den Stamm hinauf und ergreife mit beiden Händen einen Ast. Ich drücke mich mit den Füßen ab und will mich gerade vollends hinauf schwingen, da bricht der Ast aus der Rinde. Ich knalle aus ca. zwei Metern Höhe mit dem Rücken auf den Boden, kriege keine Luft mehr.
Meine Eltern eilen herbei, tragen mich unter den Kirschbaum und legen mich ins kühle Gras.
„Ich kriege keine Luft, ich sterbe!“, jammere ich. Mutter massiert mir Brust und Rücken. Langsam lässt der Krampf nach und ich kann wieder atmen.
„Ich habe dich gewarnt“, sagt Vater vorwurfsvoll.
„Ich weiß! – Es sticht so, wenn ich durchatme.“
Es sticht noch einige Zeit, denn so eine heftige Prellung spürt man lange. Ich habe Glück gehabt. Aber die Liebe zu dem Weidenbaum war mir ein für allemal vergangen.

Das Buch findet Vater später unter dem Baum, ich hatte bei dem Sturz beide Deckel durchgebissen.


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