Leseprobe:
Mondzeichen (Hannelore und Axel Theune)

Die Wintersonne, die Göttingen in strahlendes Licht tauchte, schaffte es nicht, das kleine Haus bei der Stadtmauer ein wenig zu erwärmen.
Marie spürte an den Beinen, dass die Wände und der Lehmboden ihrer Wohnung eine unangenehme, feuchte Kälte abgaben. Sie zog sich das dunkle wollene Tuch fester um die Schultern und umhüllte damit auch ihr Kind, das sie auf dem Arm trug, denn das offene Feuer des Raumes brannte nur spärlich und brachte ungenügend Wärme.
„Es ist kaum Brennholz da“, dachte Marie ärgerlich und schaute dabei auf ihre abgetragenen Strohsandalen und die mit Leinenstoff umwickelten Füße, weil diese langsam kalt wurden. Sie musste aufpassen, dass das Feuer nicht ganz ausging, während sie immer wieder unruhig zur Haustür blickte.
Besorgt drückte Marie das kleine Mädchen fester an sich, damit es nicht fror, summte leise eine lustige Melodie und wiegte dabei das Kind liebevoll hin und her. Dann legte sie einen der wenigen Holzscheite nach, aber der war noch nass und schnell verbreitete sich beißender Qualm im Haus. Er trieb Marie Tränen in die Augen, die sie mit dem Ärmel ihres langen braunen Leinenkleides abzuwischen versuchte.

Mühsam quälte sich der Rauch nach oben, um dann durch das Eulenloch, eine kleine Öffnung im Dach, nach draußen zu gelangen. Marie wandte sich den Fensteröffnungen zu und betrachtete die weißen Leinentücher, mit denen diese zugehängt waren. Diese hielten zwar die Kälte ab, ließen den Raum jedoch dunkel erscheinen. „Hans wird dieses Haus verschönern“, dachte sie, „und schon bald wird er Pergament, diese dünnen, durchsichtigen Tierhäute, in die Fenster heften. Dann wird es am Tage viel heller sein in unseren Räumen.“ Während Marie gedankenversunken in sich hineinlächelte, zupfte die kleine Sofie verspielt an den schönen blonden Locken ihrer Mutter. Diese schob ihr Haar nach hinten in den Nacken und drehte sich unruhig zur Haustür. Sie wartete auf Hans und wollte endlich damit beginnen, für die Familie Getreidebrei zu kochen, denn seit den Morgenstunden hatten sie alle nichts mehr gegessen.
Da hörte sie auf einmal die Tür knarren und atmete erleichtert auf, als der Strohballen, der von innen vor der Tür lag, zur Seite geschoben wurde. Endlich kam ihr Mann zurück. Sie setzte Sofie auf die Wolldecke am Boden, auf der sie in der Nacht in der Nähe des Feuers geschlafen hatten. Bettkästen gab es noch nicht im Haus, aber Hans, der sehr geschickt war, würde in den nächsten Tagen, sobald er die nötigen Bretter aufgetrieben hatte, welche anfertigen. Marie eilte ihrem Mann ein paar Schritte entgegen.
Erwartungsvoll sah sie ihn an, aber er zuckte nur mit den Schultern und sagte bedauernd: „Es war umsonst, Marie, ich habe kein Holz bekommen, nur die paar Scheite auf meinem Arm; niemand wollte mir etwas zum Heizen verkaufen. Die Leute brauchen ihr Holz selbst, denn jetzt im Winter durchdringt die Kälte die Wohnstätten und lässt die Menschen frieren. Nur ein Wachmann, der gerade am Stadttor seinen Dienst versieht und den ich angebettelt habe, hat mir etwas vom Vorrat aus dem Turmzimmer gegeben.“ Er legte das mitgebrachte Brennholz neben die Feuerstelle und sah, dass Marie ihn enttäuscht anschaute.
„Der Holzhändler kommt erst nach Weihnachten wieder“, versuchte er ihr eilends zu erklären. „Es wird Frost in den nächsten Tagen erwartet und auch ich vermute, dass es noch kälter wird. Der Winter hat begonnen und wir brauchen jetzt dringend Feuerholz, sonst werden wir hier erfrieren. Mir wird nichts anderes übrig bleiben, als unser Pferd vor den Wagen zu spannen und noch einmal zu dem Waldstück zu fahren, in dem wir gestern auf dem Weg hierher Holz liegen sahen. Auch der Wachmann hat mir geraten, außerhalb der Stadt etwas zu besorgen.“
Als Hans merkte, wie niedergeschlagen Marie war, strich er beruhigend über ihr Haar und sagte aufmunternd: „Mach dir keine Sorgen, ich werde bald zurück sein. Ich bringe einen Wagen voll Holz mit und dann werden wir es richtig warm haben in unserem Haus.“ Er drückte Marie, die den Tränen nahe war, an sich und flüsterte: „Es wird bald dunkel und ich muss mich beeilen, damit ich den Weg nicht verfehle.“

 

Leseprobe 2016

Leseprobe ab Seite 208

Göttingen lag am Jakobsweg und darum kamen immer mehr Pilger in diese Stadt. Sie trugen eine Kammmuschel am Hut, die sie auch Jakobsmuschel nannten. Diese Muschel symbolisierte die Verbundenheit mit Jakobus, der an der spanischen Küste gestrandet sein soll. Sie wirkte auch in ihrer Form wie die Finger einer Hand und die Pilger nutzten sie als Trinkgefäß. Auch sollen die Furchen der Jakobsmuschel die Wege darstellen, die durch ganz Europa nach Santiago de Compostela hinführen. Die Muschel bekam der Pilger in Spanien als Beweis, dass er den heiligen Ort aufgesucht hatte. Entdeckt wurde das angebliche Grab des Jakobus im Jahr 800. Während der Wallfahrt musste der Pilger seinen Besitz mit den Armen teilen. Außer dem Hut trug er einen Büßerrock mit Ärmeln, einen Mantel oder Umhang, einen Gürtel, Lederschuhe und einen langen Stock. Umgehängt hatte er eine Tasche und am Gürtel befand sich eine Flasche. Der schwere Mantel durfte nicht zu lang sein, da er beim kräftigen Ausschreiten nicht behindern sollte und in seiner Tasche befand sich alles Nötige für den langen Pilgermarsch zu Fuß auf dem Jakobsweg nach Spanien, zur Stadt Santiago de Compostela, in der Jakobus der Ältere, ein Jünger Jesu und einer der zwölf Apostel, begraben sein soll. Die Pilger gingen diesen langen Weg, um dem Höllenfeuer zu entgehen. Sie wurden von der Kirche geschickt, um Buße zu tun und viele kehrten nicht mehr zurück in ihre Heimat, denn der Weg war sehr gefährlich. Der Pilger fand nicht selten den Tod auf seiner Wanderung. Einige Kilometer von Santiago de Compostela entfernt lag für die christliche Kirche das Ende der Welt – das Kap Finisterre – danach kam das endlose Meer nach Westen. Zum Pilgermarsch gehörte die Rückkehr in die Heimat. Die Wege schienen endlos. Der Pilgermarsch konnte bewältigt werden, wenn sie nur das Allernötigste bei sich hatten. Von vielen Menschen wurde die Jakobuslegende angezweifelt, aber die Pilger störte das nicht. Es waren auch der Glaube und das Abenteuer, die die Menschen oft nach Spanien trieben. Selbst Kranke pilgerten und hofften auf ein Wunder.

Die Betreuung der durchreisenden Pilger galt als vornehmste Pflicht und die Göttinger bemühten sich, dieser Aufgabe nachzukommen. Auch die Pilger bettelten und empfanden dieses auch nicht als Schande, denn sie waren stolz darauf, im Auftrage der Kirche nach Spanien zu gehen. Geschlafen wurde in den Ecken der Kirchen und zur Verehrung des heiligen Jakobus hatte Göttingen sogar eine Bruderschaft. Manche Pilger bekamen von der Kirche Strafen auferlegt, weil sie ein Verbrechen begangen hatten. So war der Täter durch den langen Weg in das fremde Land für einige Zeit seiner Umgebung entzogen worden und möglicher Rache entkommen. Kehrte er zurück, so war die Tat womöglich in Vergessenheit geraten. Aber oft brachten sie auch Krankheiten mit, wenn sie sich unterwegs angesteckt hatten. Der Jakobsweg nach Santiago de Compostela war neben Rom und Jerusalem wichtig für die Christenheit. Pilger, auf dem Weg aus Richtung Norden kommend, wanderten weiter von Göttingen über die Orte Geismar, Diemarden, Reinhausen, Lichtenhagen, Kirchgandern, Allendorf, Eisenach durch Deutschland über Frankreich nach Spanien. Als Mittelpunkt der Welt galt Jerusalem.

 


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