Leseprobe:
Jerichos Teufelsorgel
(Hartmut Großer)

Dear Nick,

anbei übersende ich dir einen Teil des Originals, das wir bei unseren neusten Ausgrabungen gefunden haben.
Da ich weiß, wie sehr du nach einem Beweis für deine Bibelforschungen suchst, habe ich gleich nach der ersten Sichtung diesen Papyrus eingepackt und dir zugeschickt.
Die weiteren Fragmente sind leider noch nicht vollständig erfasst. Außerdem befinden sich in der Gruft, die wir vor einigen Tagen geöffnet haben, noch mehr dieser Tonkrüge, aus dem das Fragment stammt.
So wie ich die Sache sehe, werden wir in Kürze an die restlichen Dokumente herankommen, um sie auszuwerten. Ich bin sicher, dass sie uns zu ganz neuen Erkenntnissen über die Vergangenheit führen werden.
Allerdings gibt es hier Schwierigkeiten. Noch sind sie nicht gravierend, zeigen aber bei unseren Hilfskräften Wirkung. Einige unerklärliche Unfälle sind passiert, und seit Tagen fühle ich, dass wir beobachtet werden. Ich weiß nicht von wem. Wahrscheinlich Grabräuber oder andere dunkle Elemente, die auf die Schätze der alten Städte aus sind. Du weißt ja, neben den unbezahlbaren archäologischen Fundsachen gibt es noch Gold, Silber und Edelsteine in unvorstellbaren Mengen, auf die sie mit Sicherheit scharf sind. Möglicherweise ist auch unser spezieller Freund dabei.
Sieh zu, dass du dich freimachen kannst und komm so schnell wie möglich her. Ich brauche dringend deine Hilfe.

Tom

PS: Sei äußerst vorsichtig! Auch was das Dokument betrifft. Ich habe die Befürchtung, dass man uns hier ständig ausspioniert und demnächst etwas Größeres vorhat.


Jetzt nach dem dritten Lesen kehrte langsam seine ruhige Überlegung zurück. Was in dem Brief stand, klang geheimnisvoll und nicht gerade beruhigend. Neben der für ihn fantastischen Nachricht spürte er unterschwellig den verzweifelten Hilferuf seines Freundes, der mit der herrschenden Situation nicht fertig wurde.
Nachdenklich lehnte sich der große, schlanke Mann mit dem durchtrainierten Körper nach hinten und starrte blicklos aus dem Fenster rechts neben dem wuchtigen Schreibtisch. Die beginnende Abenddämmerung und das Halbdunkel des Arbeitszimmers ließen die ganze Angelegenheit noch düsterer und geheimnisvoller erscheinen.
Die rechte Hand fuhr über das kantige, energische Kinn und glitt dann hinauf zum gepflegten Oberlippenbart, den er unbewusst mit Daumen und Zeigefinger glatt strich. Das machte er immer, wenn ihn irgendetwas stark beschäftigte. Mit der Linken hielt den Brief so, als ob er ihn vergessen hätte. Angestrengt überlegte er.
Zweifellos enthielt der Papyrus die älteste Niederschrift der Welt, die mit den Bibeltexten übereinstimmte. Noch älter als die Schriftrollen vom Toten Meer, die 1946 ein beduinischer Hirtenjunge in den Höhlen von Qumran gefunden hatte.
Dr. Nicholas Warden, vierunddreißig Jahre alt, Archäologe und stellvertretender Direktor des Museums von Philadelphia mit dem Spezialgebiet altes Judentum, wusste genau, worum es ging. Das, was er heute in die Hände bekommen hatte, bestätigte zum wiederholten Mal, dass die Schriften des Alten Testaments der Wahrheit entsprachen, wenn auch viele Stellen weiterhin unklar waren.
Allerdings zeigten die Andeutungen in Tom Reads Brief, dass sich neben den Archäologen auch undurchsichtige Elemente dafür interessierten. Hauptsächlich deshalb, weil sie dort ungeheure Werte vermuteten, die den Israeliten bei der Eroberung des Westjordanlandes in die Hände gefallen waren. Schließlich wurden damals Städte wie Jericho und Ai völlig zerstört, alle Einwohner getötet und die Gott geweihten Schätze beiseite geschafft.
Bis heute waren die Ausgrabungen in Jericho gespickt mit aufsehenerregenden Funden und unerhörten Entdeckungen, mit Überraschungen und Enttäuschungen, mit Behauptungen und Widerrufungen, mit Streit über Deutung und Datierung. Bereits seit über fünfzig Jahren lagen sich die Wissenschaftler darüber in den Haaren.
Auch Nicholas Warden, von seinen Freunden Nick genannt, hatte sich zwei Jahre lang zwischen den Ruinen mit Zeittabellen, Zeichnungen und Karten herumgetrieben und bei den einzelnen Ausgrabungsstätten nach Spuren des Angriffs Josuas, etwa um 1250 bis 1200 v. Chr., auf die Stadtmauern gesucht. Doch gerade aus dieser Ära ist bis heute nichts bewiesen worden. Man fand Überreste aus allen Epochen. Sie reichten sogar bis in eine Zeit vor neuntausend Jahre zurück – und damit weit über den Zeitabschnitt der beschriebenen und bereits nachgewiesenen Sintflut hinaus.
Und nun dieser Brief!
Um besser nachdenken zu können, schloss Nick die Augen. Erneut fragte er sich, weshalb ihn gerade diese Bibelstelle so faszinierte, obwohl es doch wesentlich interessantere Textstellen gab. Zum Beispiel das Buch Hesekiel, mit dem sich der NASA-Experte Joseph Blumrich beschäftigt hatte oder die Bundeslade, die auch im Laufe der Zeit verschollen ist. Aber nein, schon als Kind interessierte ihn das Schicksal der Stadt Jericho, vor allen Dingen die geheimnisvollen Widderhörner oder auch in anderen Textstellen Posaunen genannt, deren Töne die Stadtmauern zum Einsturz gebracht hatten.
Weil ihn gerade die Vergangenheit der menschlichen Völker, speziell die der Juden, begeisterte, hatte er Archäologie studiert und sich auf die Geschichte der Israeliten gestürzt. Doch nicht nur das faszinierte ihn, sondern alles Geheimnisvolle der Vergangenheit wollte er ergründen.
Bei den abenteuerlichen und oft auch spektakulären Ausgrabungen, die ihn, manchmal gemeinsam mit seinem Freund Tom, in die Länder des Orients, sowie Südamerikas geführt hatten, war er nicht selten mit einem syrischen Kollegen zusammengestoßen. Ein unangenehmer, zwielichtiger Geselle, der diesen Beruf hauptsächlich zur eigenen Bereicherung betrieb. Allerdings vermuteten Tom und er, dass der Mann nebenbei für eine islamische Untergrundorganisation arbeitete, der er Gelder aus dem Erlös der von ihm verschobenen Fundstücke zukommen ließ.
Nick war ein Abenteurer, den es immer auf die Suche nach neuen Erkenntnissen und Herausforderungen trieb. Das hatte man bei der Museumsleitung schon längst erkannt und gab ihm meistens Gelegenheit diesem Trieb zu frönen. Schon allein deshalb, weil er alle seine Fundstücke, die mitunter sehr exotisch und äußerst wertvoll waren, dem Museum zur Verfügung stellte.
Selbstverständlich beschäftigte sich der Archäologe auch mit Aufgaben, für die er als Angestellter des Museums von Philadelphia zuständig war.
Unter anderem gelangte er vor einigen Jahren durch einen Auftrag nach Deutschland, wo er sich auf die Suche nach den Überresten eines sagenumwobenen Musikinstrumentes, der sogenannten Teufelsorgel, begeben hatte.
Ein leichtes Lächeln flog über Nicks Gesicht, als er daran zurückdachte und die Geschichte rekapitulierte. Der Sage nach verschrieb Ende des sechzehnten Jahrhunderts ein Orgelbauer seine Seele dem Teufel und erhielt dafür die Zeichnung einer Orgel, die ganz neue Töne hervorbrachte. Die Orgelpfeifen waren riesengroß und schwer zusammenzusetzen. Beim ersten Orgelspiel stürzte die Kirche ein und einige Zuhörer wurden wahnsinnig. Daraufhin verdammte man die Orgel als Teufelswerk und zerstörte sie vollständig. Der Orgelbauer, ein gewisser Enno Seipold, konnte fliehen. Doch wohin er sich wandte, entzog sich der Geschichte. Jahrhunderte später tauchte ein Dokument bei Wardens Museumsleiter auf, in dem von einer weiteren Riesenorgel die Rede war. Nick hatte so die Gelegenheit erhalten, nach Deutschland zu fliegen und danach zu suchen. Leider ohne Erfolg! Nur die Fragmente von uralten Zeichnungen entdeckten er und Professor Jens Altenberger, dessen Hilfe er für die Nachforschungen in Anspruch genommen hatte.
Nebenbei hatte sich Warden während dieser Zeit mit den Grundlagen der Akustik beschäftigt und erstaunliche Parallelen zu den Beschreibungen der Posaunen von Jericho herausgefunden. Wahrscheinlich war das damals der Anlass gewesen, noch fanatischer nach den zerstörerischen Schallinstrumenten der Israeliten zu forschen. Denn eins war für ihn noch heute gewiss: Es hatte diese Schallinstrumente gegeben, die in der Lage gewesen waren, Gemäuer zum Einsturz zu bringen. Im Altertum ebenso wie im Mittelalter. Also mussten sich schon früher Gelehrte mit der Akustik auseinandergesetzt haben und zu erstaunlichen, ja zerstörerischen Ergebnissen gekommen sein. Wenn schon ein großer Teil der Bibel durch Ausgrabungen und handschriftlichen Dokumente bestätigt war, musste es auch Relikte oder wenigstens Beschreibungen geben, die sich mit seinem Lieblingsthema beschäftigten. Danach suchte er.
Und nun lag das Papyrusfragment mit der Bestätigung auf seinem Schreibtisch. Langsam öffnete er die Augen und blickte versonnen auf den Brief in der linken Hand.
„Tom hat sehr gute Gründe, meine sofortige Anwesenheit zu fordern“, schoss es ihm durch den Kopf. Abermals trat das euphorische Gefühl auf. „Das könnte die archäologische Sensation des Jahrhunderts werden und meine Suche beenden. Ich muss ihn unbedingt informieren, dass ich komme.“
Ein Geräusch ließ ihn erschreckt zusammenzucken und holte ihn in die Realität zurück. Sein Kopf flog zur Tür herum. Gleichzeitig fuhr die rechte Hand in die Schublade vor seinem Bauch und umklammerte den Griff der schweren Coltautomatik, die er dort für alle Fälle bereithielt.

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