Leseprobe:
Der Hafengott ( Manfred Piepiorka )
Zuflucht und Schutz sahen anders aus
Völker und Nationen leben wie man weiß, in unterschied-lichen
Rechtssystemen. In dem Land, in dem sich die in der Folge geschilderten
Ereignisse abspielten, gelang es der führenden Schicht in einigen
Fällen, verbrecherische Machenschaften geschickt zu verschleiern.
Nun bleibt allerdings niemals wirklich alles geheim. Hier und dort sickern
immer Informationen durch das Tarnnetz und bringen bzw. brachten verantwortungsbewusste
Einzelpersonen dazu, sich aufzulehnen.
Ab einem gewissen Punkt schlug die Obrigkeit unbarmherzig zu. Den Aufbegehrenden
schien nur noch ein einziger Ausweg denkbar, das Zurückweichen oder
Ausweichen. Der Ehrlichkeit halber sollte lieber von Flucht gesprochen
werden.
In dieser Situation tauchten plötzlich und unerwartet offensichtlich
potentielle Helfer auf. Die wussten unverschämt gut zu argumentieren
und flüsterten den betroffenen Menschen eine mögliche Passage
ins Ohr, die aus dem Dilemma führte. Hoffnung und Zukunftsgedanke.
Inzwischen führte man die Wünsche und Erwartungen bislang völlig
Fremder über verschiedene Netzwerke punktförmig zueinander.
Einzelpersonen und ganze Zusammenschlüsse Gleichgesinnter setzten
sich plötzlich in Bewegung. Gemeinsam stark strömten die, einer
vagen Hoffnung Folgenden, dem versprochenen Schlupfloch entgegen.
Mit dieser Masse verschmelzend, fiel auch Bastian absolut nicht auf. Er
wurde Teil des wild zusammengewürfelten Haufens. Der junge Mann folgte
dem alles bestimmenden Herdentrieb. Unaufhaltsam durch fremde Gegenden,
Orte und nun durch schmale Gassen hinunter zum Hafen. Die beidseitig eng
bebauten, schmalen, zuletzt beinahe schnurgeraden Gassen wirkten wie ein
Trichter. Der inzwischen stolpernd vorwärtsdrängende Pulk fiel
geradezu in die sich öffnende Weite eines großen Platzes.
Wie zum Verrat bereit, setzte währenddessen die Dämme-rung
ein. Sie gab sich allerdings kaum zu erkennen, sondern flüchtete
umgehend in die Schwärze der Nacht. Gegen den nächtlichen Horizont
erkannten die brennenden Augen der Flüchtenden jetzt schemenhaft
die Silhouette eines Schiffes.
Ja, dort unten wartete es, das Schiff. Es ankerte gar nicht weit entfernt
vom Pier. Allerdings nicht nahe genug, als dass jemand jegliche Einzelheiten
registrieren konnte. Zumal irgend-etwas die Sicht behinderte. Das war
nicht die Dunkelheit. Es gab auch keinen Nebel. Die Unklarheit verursachte
etwas, was von Bastian eher als eine Art Schleier bewertet wurde.
Trotzdem, einige Aufbauten und Masten ließen sich mehr oder weniger
gut erkennen. Demnach konnte es sich bei dem Schiff dort durchaus um einen
Segler handeln. Aller-dings irritierten die Ausmaße. Sowohl die
Länge des Schiffes, wie auch die Höhe der Aufbauten mussten
gigantisch sein. Außerdem ein Segelschiff mit Decks in solch
einer Anordnung? Sehr befremdlich und eigenartig, wenn da nur die Masten
nicht wären. Unter anderen Umständen hätte der Anblick
vermutlich abgeschreckt. Doch in jenen Augenblicken entwickelte nicht
ein einziger der vielen Menschen ein warnendes Gespür dafür.
Im Gegenteil, trunken von Erwartungen starrte alles mit brennenden Augen
hinüber zum schemenhaften Schiff. Überhitzte Leiber drängten
sich immer dichter zusammen. Unzählige Füße scharrten
unruhig auf grobem Pflaster. Verhaltene Kraft, einer gespannten Feder
gleichend. In der Luftglocke der Anspannung knisterte so etwas wie Elektrizität.
Bereit, sich unvermittelt als greller Blitz zu entladen. Die Zeit schien
auf einmal unbekannten Gesetzmäßigkeiten zu gehorchen. Sie
verstrich in hin- und herpendelnde Unschlüssigkeit. Die Begriffe
für Sekunden, Minuten oder Stunden erhielten den Status: Überflüssig.
Der einzig gültige Zeitbegriff hieß: Erwartung!
Bastian, der ebenfalls innerlich brannte, verglich seine Situation mit
der eines Kraftfahrers, der im Stau auf der Autobahn steht. Irgendetwas
hemmt, aber es ist nicht erkennbar, was. Die allgemeine Unruhe verstärkte
sich. Dann, die größtmögliche Zeit bis zur Eskalation
wohl ausgereizt, öffnete sich ein Entlastungsventil. Auslöser
dafür wurde ein halblauter Pfiff. Ein jeder der Wartenden reagierte
darauf. Plötzlich gab es wiedererwachte Bewegung.
Schneller und schneller. Nicht einmal die wenig Vertrauen erweckenden,
auf Duckdalben verlegten Planken, konnten die Masse jetzt noch stoppen.
Unter dem geradezu sträflich unsicher errichteten Steg gluckste das
Wasser. In ihm spiegelten sich die schwärzlichen Wolken des nächtlichen,
im Moment ohne Sterne und Mond dunkelblauen, fast schwarzen Himmels. Die
vielen Füße ließen die groben Planken erzittern und schwingen.
Und dennoch schreckte nichts die vorwärtshastenden Menschen ab.
Wie alle vor und nach ihm, nutzte Bastian den schwankenden Bohlenpfad.
Trügerische Sicherheit bot lediglich ein dünner, hüfthoch
parallel zum Plankensteg gespannter Strick. Fast schon unerwartet war
es dann tatsächlich geschafft. Die Lücke in der Reling des Schiffes
lag hinter dem jungen Mann. Aus dem Dunkel heraus ergriff eine Hand Bastians
Arm. Ob gewollt oder nicht, dem groben Zug musste man folgen. Sicht gleich
null, es gab nirgendwo ein Licht. Mehr stolpernd als gehend überwand
der Gezerrte undefinierbare Gegenstände, Türschwellen und Stiegen.
Wie viele Male stießen Beine, Arme oder Kopf irgendwo an? Der stoßend
und zerrend Geführte gab es schnell auf, solche Ereignisse zu zählen.
Wenn aus derartigen unliebsamen Berührungen nur blaue Flecken entstanden,
konnte ein Betroffener wahrlich schon zufrieden sein.
Endlich hörte das blinde Vorwärtshasten auf. Ein schmaler Flur
und schließlich eine Tür bildeten einen Trichter in einen unbeleuchteten
Raum. Irgendjemand zwang Bastian dazu, sich auf ein niedriges, hartes
Lager zu setzen. Dunkelheit umfing den jungen Mann. Stickig, geschwängert
mit vielerlei Gerüchen, staute sich die gerade noch atembare Luft
zwischen Decke und Boden. Sie erzeugte einen schwer zu beherrschenden
Brechreiz. Zu den als Dreck, Schweiß und Exkremente erkennbaren
Ausdünstungen gesellte sich gerade noch spürbar der Gestank
von Blut. Die sich unterschwellig aufbauende Angst forderte Aufmerksamkeit.
Wo waren die anderen Menschen? Wo war man selbst gelandet?
Warnende Vorbehalte des Unterbewusstseins waren plötzlich schmerzhaft
präsent. Sie nicht wahrhaben wollend, versuchten Hoffnungsgefühle
sie beiseite zu drängen. So schnell, wie das Warnsignal entstand,
verlor es sich schon wieder. Zurück blieben tief im Unterbewusstsein
lauernde, leise bohrende Fragen. Unbeantwortet aber nicht verstummen wollend.
Was hätten Erklärungen überhaupt genützt? Wer weiß?
Womöglich hätten sie die beginnende Angst sogar noch ins Unendliche
getrieben. Gelinde Unruhe blieb letztlich die einzige Regung, die der
Verstand sich gestattete. War das jetzt die ersehnte Erlösung?
Sollte Bastians neue, glückbringende Zukunft so beginnen? Oder war
dies nur ein anderer Weg in die Verdammnis Bastian war der Verzweiflung
nahe. Am liebsten hätte er in die Dunkelheit geschrien, nach Menschen
seinesgleichen gesucht, doch er wagte es ja nicht einmal, sich zu bewegen,
geschweige denn einen Laut von sich zu geben. Was diese Unfähigkeit
auslöste, konnte sich Bastian nicht erklären.
Irgendwo, weit über Bastian, hasteten dröhnende Schritte über
Decksböden. Unterdrückte, halblaute Töne und Rufe zerrissen
dort die Stille. Waren das nicht Schreie? Unter Deck jedoch
konnte ein Horcher sie eher ahnen, denn hören. Durch einige dumpfe
Schläge schienen Decke und Wände zu erzittern. In kurzen Pausen
dazwischen kratzte und schabte etwas über raue Flächen. Dann
herrschte plötzlich schmerzlich bedrückende Stille. Nicht der
leiseste Ton war zu vernehmen. Keine Bewegung zu spüren. Es schien,
als würden selbst Bastians Atemzüge von der Dunkelheit verschluckt.
Wie zum Ersatz dröhnte der eigene Herzschlag überlaut.
Welche Szenen spielten sich dort oben ab? Waren das die üblichen
Geräusche auf einem Schiff? Verlud die Besatzung notwendige Güter?
Fluchte man dabei? Oder brüllte jemand Befehle? Sicherlich
war das nur für die Neuankömmlinge ungewohnt, versuchte sich
Bastian zu beruhigen. Schiffsbetrieb verursachte halt derartige
laute Geräusche. Der lauschende junge Mann versuchte gar nicht
erst, eine darüberhinausgehende, bessere Erklärung zu finden.
Er befahl seinem Gehirn einfach, nicht weiter darüber nachzudenken.
Auch wenn ihm das nicht so ganz gelingen wollte.
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