Leseprobe:
Im Bann des Bernstein (Manuela Tietsch)
Die Kinder saßen um Amber verteilt auf dem Sofa, nur Olli saß
kerzengerade auf dem Sessel, um in den Fernseher zu gucken. Sie schlackerten
unruhig mit den Beinen vor und zurück, waren extrem aufgekratzt. Na
ja, dachte Amber, man sah ja auch nicht alle Tage den eigenen Großvater
im Fernsehen.
Zwar gab es die Übertragung nur im Regionalprogramm, aber für
die Kinder war auch das etwas ganz Besonderes. Becki drückte sich eng
an sie, während sie mit einer Hand an ihrem Ohrläppchen spielte.
Nur Nicki interessierte sich noch nicht für das ganze Spektakel. Seine
hellbraunen Locken kringelten sich um das runde, noch sehr kleinkindliche
Gesicht. Seine Züge waren fein und zart.
"Wann kommt denn nun endlich Großvater?", fragte Olli.
Amber zuckte die Schultern. "Bestimmt gleich!"
Die Moderatorin las gerade die letzten Zeilen zu dem vorangegangenen Bericht.
Amber atmete erleichtert auf, als sie die Rundumaufnahme der Stadthalle
erblickte. Endlich, sie konnte die Kinder auch kaum noch beruhigen. Die
Kamera schwenkte einmal im Saal herum, zeigte die vielen Menschen, die sich
dieses Ereignis nicht entgehen lassen wollten, ehe sie auf dem Podium hielt.
Ihr Vater stand aufrecht, eine recht gute Figur machend, neben einem schlaksigen
Reporter, der ihm aufdringlich das Mikro in das Gesicht hielt.
"Da! Da ist ja Großvater!" Die Kinder stürmten auf
den Bildschirm zu, als könnten sie ihren Großvater dadurch berühren
und dichter am Geschehen sein.
Die Kamera zog erneut eine Runde im Saal - Leon und Ellen waren eine Sekunde
zu sehen -, ehe sie schließlich auf dem Podium zum stehen kam. Olli
wendete sich aufgeregt an Amber. "Hast du auch gerade Mami und Papi
gesehen?"
Sie nickte bestätigend, unnützerweise, da Olli sich bereits wieder
dem Bildschirm widmete.
Der Reporter stellte seine erste Frage. "Herr Bürgermeister Wiederhold,
wie erklären Sie sich den diesjährigen großen Ansturm auf
unser jährliches Rattenfängerfest?"
Amber sah, wie ihr Vater bei dieser Frage vor Stolz fast platzte.
"Wir konnten schon seit einigen Jahren regen Zuwachs feststellen. Auch
international, worauf ich sehr stolz bin. Es kommt also nicht ganz überraschend
für uns!"
Der Reporter lächelte aufmunternd.
"Dann können wir dem Rattenfänger ja sogar dankbar sein!"
Ihr Vater lachte etwas gezwungen; sie merkte, daß der Reporter ihn
aus der Fassung brachte.
"Und das, obwohl Ihr Vorgänger von 1284 ihm nicht einmal den versprochenen
Lohn gab!"
Ihr Vater erstrahlte. Damit hatte ihm der Reporter das richtige Stichwort
gegeben. "Ein dunkler Fleck in Hamelns Vergangenheit! Aber heutzutage
halten wir unsere Versprechen natürlich. Auch die unserer Vorgänger!
Die einhundert Goldstücke liegen seit vielen Jahren für den Rattenfänger
bereit!" Er freute sich ehrlich, dem Reporter das erzählen zu
können.
Der lachte leicht ironisch. "Und Ihre Tochter?"
Amber hätte ihn erwürgen können. Was stellte der Kerl denn
für blöde Fragen? Ihr Vater wurde rot, lachte verunsichert. Der
Reporter wendete sich an die Zuschauer. "Damit beenden wir die Übertragung
aus der Stadthalle zum Auftakt der Rattenfängerfestlichkeiten.
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