Leseprobe:
Die Artuslinde (Manuela Tietsch)
Ich wachte durch den frühmorgendlichen Gesang der Vögel auf. Es
dämmerte gerade, noch bedeckte dichter Nebel den Boden, bis hinauf
in die Baumwipfel. Die Luft war kühl, so kühl, daß ich meinen
Atem sehen konnte. Ich zitterte am ganzen Körper. Meine Glieder waren
steif und schmerzten. Ich versuchte mich zu strecken, ohne vomBaum zu fallen.
Nicht nur die Kälte trug Schuld an meinem Zittern, es lag auch an der
Aufregung.
Meine Hoffnung, wieder unter der Linde aufzuwachen, war wie eine zu dünne
Eisschicht zerbrochen. Mir wurde überdeutlich bewußt, daß
ich in meinem Kleid, nur mit dieser leichten Decke, die zudem feucht war,
nicht lange überstehen könnte. Die Decke war ekelhaft klamm, sie
hielt lediglich den kühlen Wind davon ab, mir die Haut gänzlich
von den Knochen zu reißen. Wärme spendete sie keine. Ich mußte
sie unbedingt irgendwo zum Trocknen aufhängen. Wie sollte ich sie jedoch
wiederfinden, wenn ich womöglich sonstwohin laufen mußte, um
einen Bach zu finden, wo ich meinen Wasservorrat auffüllen konnte.
Außerdem mußte ich mir einen besseren Schlafplatz suchen. Dieser
war zwar vergleichsweise sicher, doch gemütlich beim besten Willen
nicht.
Warum nur glaubte ich, daß ich auch heute nicht den richtigen Weg
fand? Oder einen Menschen des 21. Jahrhunderts?
Als ich glaubte, meinem Körper wieder trauen zu können trotz der
kalten Starre, die ihn bedrückte, begann ich mit dem Abstieg. Beim
letzten Ast hielt ich mich mit den Händen fest und ließ mich
nach unten gleiten. Ein paar Leibesübungen dehnten meinen steifgefrorenen
Körper. Mein Magen knurrte. Sollte ich ihm meinen vorletzten Apfel
anvertrauen? Gegebenenfalls fand ich ja ein paar Beeren oder Früchte?
Ich aß ihn! Im besten Falle konnte ich das eine oder andere Wildgemüse
sammeln? Vorausgesetzt ich fand mir bekanntes. Ich schickte ein Dankgebet
an meine Großmutter, die trotz meines Streubens darauf bestanden hatte
mir all ihre Kenntnisse in Kräuter- und naturkunde zu vermitteln. Hatte
sie etwa damals schon eine Ahnung gehabt, daß ich sie einmal brauchen
würde? Ich trank ein paar Schlucke Wasser. Schließlich fühlte
ich mich wohler und für den kommenden Tag gestärkt. Die Sonne
gewann zunehmend an Kraft. Der Nebel kroch nur noch in einzelnen Schwaden
über den Boden. Tatsächlich versprach es ein angenehmer Tag zu
werden, nicht so ein Trauerspiel wie gestern.
Als ich am Morgen aufwachte und feststellte, daß mein Traum nicht
zu Ende war, womöglich weil es sich nicht um einen solchen handelte,
hatte ich trotzdem mutig beschlossen, den Tag zu überstehen und alles
andere, was kommen sollte. Vermutlich wurde ich ja inzwischen schon gesucht!
Wie auch immer, der Schlaf hatte mir Kraft geschenkt. Ich sollte mich am
besten südlich halten, also blickte ich zur Sonne hinauf. Selbst wenn
das bedeutete in die entgegengesetzte Richtung zu gehen, aus der ich vermeintlich
gekomme war, würde ich bestimmt auf eine Straße stoßen.
Auch auf die Gefahr hin, damit eine mögliche Suchmaßnahme zu
erschweren. Würde mich denn schon jemand vermissen? Ich hängte
mir meinen Rucksack mit der Decke um und tat einen weiteren Schritt in meine
ungewisse Zukunft. Während des Gehens bemerkte ich überall um
mich herum erwachendes Leben. Mäuse huschten durch das Unterholz, Eichhörnchen
sprangen von Ast zu Ast. In der Ferne hörte ich Hirsche röhren
und hoffte, ihnen nicht zu nahe zu kommen, denn mit brünftigen Hirschen
war nicht gut Kirschen essen. Kirschen! Wie gerne hätte ich jetzt solche.
Unweit hinter mir hörte ich Wildschweine in der Erde wühlen. Sie
suchten sicherlich Bucheckern und Eicheln, während sie laut grunzten
und quiekten. Bei jedem neuen Geräusch spürte ich meine Beine
einen Schritt schneller werden, und mein Herz pochte laut in der Brust.
Das mußte doch auch jedes gefährliche Tier hören! Mich wunderte,
daß diese Tiere trotz der Helligkeit noch so geschäftig waren?
Aber nein, ich hatte doch gelesen, daß all diese Tiere noch im frühen
Mittelalter gar keine Dämmerungstiere waren, sondern nur durch den
Menschen dazu getrieben wurden. Ein Schauer lief mir über den Rücken.
zurück
|